Mit Urteil vom 14. Oktober 2021 hat sich das Bundesgericht mit der Frage der AHV-rechtlichen Qualifikation von Teilerwerbstätigen zu beschäftigen. Die Versicherte hat ein Atelier und war Künstlerin, Erwachsenenbildnerin, Art Coach, Leiterin von Firmenworkshops sowie im Kulturmanagement tätig. Sie machte ein Pensum von 50 % geltend, hatte jedoch nur wenige Aufträge. Im Jahr 2018 nur […]
AHV-rechtliche Qualifikation von Teilerwerbstätigen
Mit Urteil vom 14. Oktober 2021 hat sich das Bundesgericht mit der Frage der AHV-rechtlichen Qualifikation von Teilerwerbstätigen zu beschäftigen. Die Versicherte hat ein Atelier und war Künstlerin, Erwachsenenbildnerin, Art Coach, Leiterin von Firmenworkshops sowie im Kulturmanagement tätig. Sie machte ein Pensum von 50 % geltend, hatte jedoch nur wenige Aufträge. Im Jahr 2018 nur einen einzigen Auftrag. Dem Entscheid ist alsdann zu entnehmen, dass die Versicherte im Dezember 2014 eine Erbschaft machte und über einen hohen Liegenschaftenertrag verfügte, als Künstlerin kein einziges Bild habe verkaufen können und auch keine Einkünfte aus Malkursen und Firmenworkshops erzielte. Die Dienstleistungen als Grafikerin oder Illustratorin beschränkten auf zwei innerfamiliäre Projekte.
Das Bundesgericht betonte einmal mehr, dass der AHV-rechtliche Begriff der Erwerbstätigkeit die Ausübung einer auf die Erzielung von Einkommen gerichteter bestimmter Tätigkeit voraussetze, mit welcher die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erhöht werden solle. Dabei seien die tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnisse und Gegebenheiten massgeblich. Zwar seien grundsätzlich die Angaben gegenüber der Steuerbehörde verbindlich. Bei ernsthaften Zweifeln seien aber nähere Abklärungen notwendig. Wie die Vorinstanz verneinte das Bundesgericht in dieser Konstellation die «Erwerbsabsicht». Der erwirtschaftete Verdienst von Fr. 4’805.00 stünde in keinem angemessenen Verhältnis zwischen der behaupteten Erwerbstätigkeit und dem erwirtschafteten Lohn. Die künstlerische Arbeit der Beschwerdeführerin wurde vorwiegend als «Liebhaberei» bezeichnet und die Versicherte als Nichterwerbstätige qualifiziert.
Das Urteil zeigt einmal mehr, dass die Rechtsprechung in Konstellationen von über Jahre geringer Erwerbstätigkeit dazu neigt, Versicherte als Nichterwerbstätige zu qualifizieren.
Unbestritten ist, dass man zum Erwerb einer Liegenschaft mit Geldern der Pensionskasse (WEF) den Nachweis erbringen muss, dass die zu erwerbende Liegenschaft dem Eigenbedarf dient (Art. 4 i.V.m. Art. 10 WEFV). Was passiert nun aber, wenn eine so erworbene Liegenschaft vermietet wird? Fällt die in Art. 4 Abs. 1 WEFV postulierte Voraussetzung des Eigenbedarfs weg? Und […]
Vermieten einer mit WEF-Vorbezug finanzierten Liegenschaft?
Unbestritten ist, dass man zum Erwerb einer Liegenschaft mit Geldern der Pensionskasse (WEF) den Nachweis erbringen muss, dass die zu erwerbende Liegenschaft dem Eigenbedarf dient (Art. 4 i.V.m. Art. 10 WEFV).
Was passiert nun aber, wenn eine so erworbene Liegenschaft vermietet wird? Fällt die in Art. 4 Abs. 1 WEFV postulierte Voraussetzung des Eigenbedarfs weg? Und führt das zu einer Rückerstattungspflicht des Vorbezugs?
Hinsichtlich dieser Frage hält Art. 4 Abs. 2 der WEF-Verordnung fest, dass eine vorübergehende Vermietung zulässig ist, wenn die versicherte Person als Eigentümerin nachweist, dass die Nutzung während dieser Zeit nicht möglich ist.
Was bedeutet nun aber vorübergehend?
Das Bundesgericht hält in Auslegung der gesetzlichen Bestimmungen fest, dass eine dauerhafte Vermietung mit einem Kündigungsrecht von drei Monaten zulässig ist. Dies komme keiner Veräusserung oder Belastung der Liegenschaft gleich, welche eine Rückforderung des Vorbezugs auslösen würde. Ziel all dieser Regelungen ist es gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung und einschlägiger Literatur, dass die Liegenschaft in ihrem Wert für die versicherte Person erhalten bleibt und verkauft werden könnte, um das Geld wieder in die Vorsorgeeinrichtung einzubringen. Mit einem auf drei Monate kündbaren Mietvertrag ist diese Voraussetzung gegeben, weshalb der Vorbezug nicht zurückzuerstatten ist, wenn die Voraussetzung des Eigenbedarfs wegfällt. Selbstverständlich sind Umgehungstatbestände von dieser Regelung ausgenommen, so z.B. ein vorgeschobener Eigenbedarf mit einer nachfolgenden, sofortigen Vermietung.
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat mit Entscheid vom 23. Februar 2021 die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen mit der Auflage, ein neues psychiatrisches Gutachten über den Versicherten einzuholen und ihm vorgängig im Rahmen eines korrekt durchgeführten Mahn- und Bedenkzeitverfahrens anzudrohen, das Verfahren während einer allfälligen Zeit, in welcher sich der Versicherte dem Gutachten […]
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hat mit Entscheid vom 23. Februar 2021 die Sache an die IV-Stelle zurückgewiesen mit der Auflage, ein neues psychiatrisches Gutachten über den Versicherten einzuholen und ihm vorgängig im Rahmen eines korrekt durchgeführten Mahn- und Bedenkzeitverfahrens anzudrohen, das Verfahren während einer allfälligen Zeit, in welcher sich der Versicherte dem Gutachten widersetzen würde, zu sistieren.
Die Invalidenversicherung erachtete die Sanktion der Verfahrenssistierung für den Fall, dass der Versicherte seiner Mitwirkungspflicht nicht genügend nachkommt, als unzulässig und gelangte ans Bundesgericht. Unter Berufung auf die bereits hängige Praxis wies das Bundesgericht darauf hin, dass im Falle der Nichtmitwirkung nicht eine Verfahrenssistierung vorzunehmen wäre, sondern das Verfahren als abgeschlossen gilt. Die spätere Bereitschaft zur Mitwirkung an den Abklärungen sei als Neuanmeldung zu betrachten. Die «ledigliche Sistierung» komme nicht in Frage.
Die Praxis bei Nichtmitwirken an Gutachten des Bundesgerichtes ist streng. Sie führt nämlich dazu, dass nach einer Verweigerung der Mitwirkung, auch wenn später festgestellt wird, dass grundsätzlich längst ein Rentenanspruch bestanden hätte, dieser erst für die Zeit nach Eingang der Neuanmeldung ausgerichtet wird. Daher ist sämtlichen Versicherten zu empfehlen, sich sehr gut zu überlegen, ob die Mitwirkung/Teilnahme am Gutachten im Einzelfall wirklich verweigert wird.
Immerhin hat das Bundesgericht einmal mehr klargestellt, dass ein ordentlich durchgeführtes Mahn- und Bedenkzeitverfahren notwendig ist. Ein solches ordentlich durchgeführtes Mahn- und Bedenkzeitverfahren bedingt, dass die Folgen einer Nichtteilnahme an einem Gutachten auch klar erläutert werden.
Einmal mehr: Verfahrensmängel müssen sofort gerügt werden, verspätete Rügen werden vom Bundesgericht nicht berücksichtigt. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat immer wieder bestätigt, dass Verfahrensfehler, sei das bezogen auf Ausstandsgründe oder eben andere Verfahrensfehler, sofort gerügt werden müssen. Am 15. September 2021 wurde ein weiterer Bundesgerichtsentscheid gefällt, der sich in diese Praxis einreiht. In einem Verfahren um […]
Einmal mehr: Verfahrensmängel müssen sofort gerügt werden, verspätete Rügen werden vom Bundesgericht nicht berücksichtigt. Die bundesgerichtliche Rechtsprechung hat immer wieder bestätigt, dass Verfahrensfehler, sei das bezogen auf Ausstandsgründe oder eben andere Verfahrensfehler, sofort gerügt werden müssen. Am 15. September 2021 wurde ein weiterer Bundesgerichtsentscheid gefällt, der sich in diese Praxis einreiht.
In einem Verfahren um AHV-Beiträge eines Taxiunternehmens vor Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wurden sieben Taxifahrer ins Verfahren beigeladen und haben sich in diesem Verfahren auch geäussert. Das Sozialversicherungsgericht hat eine öffentliche Verhandlung durchgeführt, ohne die Beigeladenen aber darüber zu informieren, jedoch das Verhandlungsprotokoll nach Durchführung der Verhandlung auch diesen zugestellt mit dem Hinweis, dass als Nächstes nun das Urteil erfolgen wird.
Nach dem Urteil hat einer der Taxifahrer das Bundesgericht angerufen mit der Begründung, die unterlassene Vorladung und damit die Verunmöglichung der Teilnahme an der Hauptverhandlung stelle eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Das Bundesgericht hat die Gehörsverletzung bestätigt, jedoch festgehalten, dass der Beschwerdeführer bereits nach Erhalt des Protokolls Kenntnis von der durchgeführten Hauptverhandlung gehabt habe und gemäss dem Grundsatz, dass Verfahrensmängel sofort nach Kenntnisnahme zu rügen sind, damals hätte rügen müssen. Die Rüge vor Bundesgericht sei verspätet, weshalb die Beschwerde abgewiesen wurde.
Das Urteil zeigt einmal mehr, dass Unregelmässigkeiten im gerichtlichen aber auch im Verwaltungsverfahren sofort zu beanstanden sind, ansonsten die Versicherten die Gefahr laufen, später diese Mängel nicht mehr rügen zu können.
Der Arbeitgeber des Versicherten bezahlte den Septemberlohn nicht rechtzeitig und kündigte per 31. Oktober 2018. Auch im Verlauf des Oktobers wurde der Lohn nur teilweise bezahlt. Im Februar des Folgejahres musste über den Arbeitgeber der Konkurs eröffnet werden. Der Arbeitnehmer forderte mit WhatsApp-Nachrichten vom 23., 24. und 31. Oktober sowie vom 7. und 16. November […]
Der Arbeitgeber des Versicherten bezahlte den Septemberlohn nicht rechtzeitig und kündigte per 31. Oktober 2018. Auch im Verlauf des Oktobers wurde der Lohn nur teilweise bezahlt. Im Februar des Folgejahres musste über den Arbeitgeber der Konkurs eröffnet werden.
Der Arbeitnehmer forderte mit WhatsApp-Nachrichten vom 23., 24. und 31. Oktober sowie vom 7. und 16. November 2018 die Lohnzahlungen. Mitte November willigte er zunächst in eine nicht näher definierte Teilzahlung ein. Am 30. November hat er sich wiederum per WhatsApp nach dem Stand der Dinge erkundigt und Gleiches am 14. November 2018 und sich bezüglich einer allfälligen Konkurseröffnung erkundigt. Am 13. Februar 2019 stellte er dann das Betreibungsbegehren gegen den Arbeitgeber. In der Folge stellte er bei der Arbeitslosenversicherung ein Gesuch auf Insolvenzentschädigung. Die Arbeitslosenkasse stellte sich auf den Standpunkt, dass der Arbeitnehmer seine Schadenminderungspflicht verletzt hatte, indem er einerseits eine Lohnforderung nicht mit Nachdruck verfolgte und andererseits zwischen der letzten Aufforderung Mitte Dezember und der Betreibung Mitte Februar des Folgejahres zulange zugewartet hatte.
Das Bundesgericht hat entschieden, dass von der versicherten Person nicht verlangt wird, dass sie sich juristisch fehlerlos verhält. Verlangt ist vielmehr ein Verhalten, das einem vernünftigen Menschen unter den gegebenen Umständen des Einzelfalls als selbstverständlich erscheint. Es hat erwogen, dass der Arbeitnehmer mehrfacht per WhatsApp die ausstehenden Löhne verlangt habe und auch gewusst habe, dass am 3. Dezember 2018 eine Überschuldungsanzeige und ein Gesuch um Konkurseröffnung von Seiten des Arbeitgebers eingereicht wurde. Dass der Arbeitnehmer sich im Januar nur nach dem Stand des Konkursverfahrens erkundigt hatte und nicht noch einmal explizit seine Lohnforderungen deponierte, sei deshalb verständlich. Dass das alles per WhatsApp stattfand, sei ausreichend, da auch eine telefonische Nachfrage vom Bundesgericht anerkannt würde.
Weiter hat das Bundesgericht erwogen, dass selbst wenn die beiden Nachrichten vom Januar nicht als „Lohnforderungen mit ausreichendem Nachdruck“ verstanden würden, ein zweimonatiges Untätigbleiben (von Mitte Dezember bis Mitte Februar) kein schweres Verschulden darstellen würde. Es sei nicht von einer schweren Schadenminderungspflichtverletzung auszugehen und der Anspruch auf Insolvenzentschädigung könne deshalb nicht verneint werden.
Das Urteil ist in zweifacher Hinsicht bemerkenswert:
Einerseits bringt es Klarheit über den Charakter von WhatsApp-Nachrichten. Das Bundesgericht hat diese zumindest telefonischen Nachfragen explizit gleichgestellt.
Mit dem Entscheid, dass ein zweimonatiges Untätigwerden die Schadenminderungspflicht nicht verletze, hat das Bundesgericht im Vergleich zu früheren Urteilen eine verhältnismässig lange Dauer des Untätigseins gestützt.
Es ist zu hoffen, dass dieses Urteil Schule macht und auch inskünftig die Schadenminderungspflichten etwas grosszügiger beurteilt werden. Die SpezialistInnen von KSPartner werden die Entwicklungen zu dieser Thematik weiterverfolgen und Sie dann an dieser Stelle darüber informieren.
Urteil 8C_408/2020 vom 7. Oktober 2020
Teil 1 zu den Grundlagen der Insolvenzentschädigung finden Sie hier.
Verschweigt ein Bezüger von Ergänzungsleistungen Vermögen, kann die EL-Stelle nach dessen Tod die zu Unrecht bezahlten Leistungen von den Erben während langer Zeit zurückfordern. Das Urteil wird in folgendem Videobeitrag weiter kommentiert: Hier klicken. Ein Mann bezog ab 2003 bis zu seinem Tod im Jahr 2016 Ergänzungsleistungen (EL). Nach seinem Tod erlangte die EL-Durchführungsstelle […]
Verschweigt ein Bezüger von Ergänzungsleistungen Vermögen, kann die EL-Stelle nach dessen Tod die zu Unrecht bezahlten Leistungen von den Erben während langer Zeit zurückfordern.
Das Urteil wird in folgendem Videobeitrag weiter kommentiert: Hier klicken.
Ein Mann bezog ab 2003 bis zu seinem Tod im Jahr 2016 Ergänzungsleistungen (EL). Nach seinem Tod erlangte die EL-Durchführungsstelle davon Kenntnis, dass der Mann während Jahren über ein (nicht angegebenes) Bankkonto mit einem Saldo von mehr als 1.2 Millionen Franken verfügte. Deshalb forderte sie im Dezember 2016 von den Erben rund Fr. 140’000.00 zurück, und im September 2017 nochmals rund Fr. 4’000.00.
Vor Bundesgericht war der Umfang der Rückerstattungspflicht strittig. Eine Rückforderung kann nach Art. 25 Abs. 2 ATSG grundsätzlich für einen Zeitraum von höchstens 5 Jahre seit der Entrichtung der einzelnen Leistung gestellt werden. Wird der Rückerstattungsanspruch aber aus einer strafbaren Handlung hergeleitet, für welche das Strafrecht eine längere Verjährungsfrist vorsieht, ist diese strafrechtliche Frist massgebend.
Unbestritten war, dass sich der EL-Bezüger durch sein Verhalten des Betrugs schuldig gemacht hatte. Für Betrug sieht das Strafrecht eine 15-jährige Verjährungsfrist vor. Zu entscheiden hatte das Bundesgericht aber, ob diese längere strafrechtliche Verjährungsfrist auch auf die Erben des straffälligen Empfängers der EL-Leistungen anwendbar ist.
Das Bundesgericht kam nach einer Analyse des Sinns und Zwecks der gesetzlichen Regelung, der einschlägigen juristischen Literatur und der bisherigen Rechtsprechung zum Schluss, dass die längere strafrechtliche Verjährungsfrist nach Art. 25 Abs. 2 Satz 2 ATSG auch auf die Erben anwendbar ist. Die Rückforderung der EL für den gesamten Zeitraum seit dem Jahr 2003 ist damit rechtmässig.
Hat ein EL-Bezüger Einnahmen oder Vermögen verschwiegen, gilt in Betrugsfällen damit auch für die Erben die längere strafrechtliche Verjährungsfrist von 15 Jahren. Auf Erben eines EL-Bezügers kann damit unerwartet eine sehr hohe Rückforderung zukommen, wenn sie das Erbe nicht ausschlagen. Dies obwohl sie in der Regel ausserhalb des strafbaren Handelns des Verstorbenen stehen und davon keine Kenntnis hatten und haben.
Die gesamte Situation und die genaue Berechnung der Rückforderung kann kompliziert und schwierig nachvollziehbar sein. Es lohnt es sich insbesondere bei hohen Rückforderungsbeträgen, sich frühzeitig rechtlich beraten zu lassen. Oft hängt es von vielen Umständen ab, ob überhaupt eine Rückerstattungspflicht besteht, und wie hoch diese ausfällt.
Urteil BGer 9C_321/2020 vom 2. Juli 2021 (zur Publikation vorgesehen)
Das bundesgerichtliche Urteil wird im folgenden Videobeitrag eingehender diskutiert: Hier klicken. Der seit der Geburt an einer Hämophilie A mit sekundär krankheitsbedingten Arthrosen im Knie, Fuss und Ellenbogen leidende Versicherte schloss 1995 das Medizinstudium trotz des Geburtsgebrechens erfolgreich ab. die IV sprach ihm dann eine halbe Invalidenrente zu, welche später aufgrund einer Tätigkeit als beratender […]
Eingeschränkte Validenkarrieren von an Geburtsgebrechen leidenden Versicherten / Diskriminierung aufgrund erhöhter Beweisanforderungen?
Das bundesgerichtliche Urteil wird im folgenden Videobeitrag eingehender diskutiert: Hier klicken.
Der seit der Geburt an einer Hämophilie A mit sekundär krankheitsbedingten Arthrosen im Knie, Fuss und Ellenbogen leidende Versicherte schloss 1995 das Medizinstudium trotz des Geburtsgebrechens erfolgreich ab. die IV sprach ihm dann eine halbe Invalidenrente zu, welche später aufgrund einer Tätigkeit als beratender Arzt im Pensum von 70 % bis 80 % wieder aufgehoben wurde. Aufgrund von Verschlechterungen des Gesundheitszustandes wurden eine Hilflosenentschädigung sowie Assistenzbeiträge beigezogen, ebenso ab Oktober 2019 wiederum eine halbe Rente aufgrund des Invaliditätsgrades von 51 %. Der Versicherte forderte eine höhere Rente mit der Begründung, dass er zwischenzeitlich den Facharzttitel für Physikalische Medizin und Rheumatologie erfolgreich abgeschlossen habe und laut Statistik 75 % der Fachärzte spätestens zwei Jahre nach Erhalt des Facharzttitels eine eigene Praxis eröffnen würden. Er machte ein Valideneinkommen von zwischen Fr. 261’000.00 und Fr. 267’000.00 geltend. Demgegenüber ging die Invalidenversicherung lediglich von einem Valideneinkommen von Fr. 178’000.00 aus. Sie stützte sich auf die Tabelle 11 der LSE für klinische tätige Ärzte.
Das Bundesgericht wies die Beschwerde ab unter Hinweis auf die Rechtsprechung, dass theoretisch vorhandene berufliche Entwicklungsmöglichkeiten praxisgemäss nur beachtlich sind, wenn sie mit hoher Wahrscheinlichkeit eingetreten wären (Urteil 9C_316/2020 vom 6. Oktober 2020). Obwohl der Beschwerdeführer statistisch nachweisen konnte, dass 75 % der Fachärzte spätestens zwei Jahre nach Erhalt des Facharzttitels eine eigene Praxis eröffnen, erachtete das Bundesgericht die Praxiseröffnung nur als möglich resp. eine blosse Absichtserklärung. Es könne nicht gesagt werden, dass der Beschwerdeführer mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Praxis eröffnet hätte.
Das Urteil reiht sich in die strenge Praxis des Bundesgerichtes bezüglich Validenkarriere ein. Die Praxis ist im Zeitalter des durchlässigen Arbeitsmarktes sowie auch eines sehr durchlässigen Weiterbildungssystems nicht mehr zeitgemäss. Das bezieht sich besonders auf Fälle wie den vorliegenden mit frühen Validitäten, aber in welchen die Möglichkeit, eine Absicht für eine berufliche Entwicklung zum Ausdruck zu bringen überhaupt nicht besteht, ebenso bei sehr jungen Berufsleuten, die z.B. noch während oder kurz nach der Lehre erkranken. In diesen Konstellationen werden in der Regel erst Überlegungen, aber noch keine konkreten Schritte für weitere berufliche Entwicklungen getätigt. Solche bleiben dann für das Valideneinkommen irrelevant, was im Endeffekt diskriminierend ist.
Den dazugehörigen Videobeitrag, in welchem das Urteil weiter erläutert wird, finden Sie hier: Hier klicken. Ein im Veloanhänger ordnungsgemäss angegurtetes damals fünf Jahre altes Kind wurde von einem Pferdegespann, dessen Pferd scheute und durchbrannte, erfasst. Es wurde aus dem Veloanhänger gerissen und auf die angrenzende Wiese geschleudert. Dabei wurde es schwer verletzt. Gegenstand des Verfahrens […]
Konsequente Beweisaufteilung im Rahmen der Tierhalterhaftung
Den dazugehörigen Videobeitrag, in welchem das Urteil weiter erläutert wird, finden Sie hier: Hier klicken.
Ein im Veloanhänger ordnungsgemäss angegurtetes damals fünf Jahre altes Kind wurde von einem Pferdegespann, dessen Pferd scheute und durchbrannte, erfasst. Es wurde aus dem Veloanhänger gerissen und auf die angrenzende Wiese geschleudert. Dabei wurde es schwer verletzt.
Gegenstand des Verfahrens war die Haftung des Tierhalters nach Art. 56 Abs. 1 OR. Nach dieser Bestimmung haftet der Halter eines Tieres, welches Dritten Schaden anrichtet. Dem Tierhalter steht der Entlastungsbeweis zu. An diesen sind jedoch strenge Anforderungen zu stellen. Der Nachweis der allgemein üblichen Sorgfalt reicht nicht. Der Tierhalter muss nachweisen, dass er sämtliche objektiv notwendigen und durch die Umstände gebotenen Massnahmen getroffen hat.
Im zu beurteilenden Fall lag ein Sachverständigengutachten vor, welches dem Fuhrmann attestierte, dass er vor dem «Durchbrennen» des Pferdes eine Linkswende sicher durchgeführt habe, dass aber die Gründe für das anschliessende Durchgehen des Pferdes nicht abschliessend ermittelt werden können. In diesem Zusammenhang warf der Sachverständige die Frage auf, wie die Leinenhaltung gewesen sei. Im Rahmen des gerichtlichen Verfahrens wurden dazu seitens des Pferdehalters auch keine Ergänzungsfragen gestellt und keine Behauptungen gemacht. Hingegen ging das Bundesgericht – entgegen der Vorinstanz – davon aus, dass für die entscheidende Phase vor dem Durchgehen des Pferdes Beweislosigkeit herrscht, zumal im Verfahren nicht einmal behauptet worden war, der Fuhrhalter hätte sich korrekt verhalten. Das Bundesgericht ging deshalb von der Beweislosigkeit für die Vorgänge kurz vor dem Durchgehen des Pferdes aus und damit auch vom Scheitern des Entlastungsbeweises. Die Haftung des Tierhalters wurde bestätigt.
Das bundesgerichtliche Urteil hält sich sehr streng an die Beweislastverteilung bei Kausalhaftungen. Es zeigt, wie wichtig eben die Frage in solchen Verfahren ist, wer welche Umstände zu beweisen hat und dass an solchen Beweisfragen die Durchsetzung von Ansprüchen scheitern kann.
Das Bundesgericht hatte sich in einem invalidenversicherungsrechtlichen Fall wieder einmal mit der Frage zu beschäftigen, ob im Rahmen der Ressourcenprüfung (BGE 141 V 281) von medizinischen Gutachten abgewichen werden kann. Hier gilt der Grundsatz, dass wenn das medizinische Gutachten umfassend und nachvollziehbar begründet ist sowie die Grundsätze der Ressourcenprüfung berücksichtigt, die rechtsanwendende Stelle (Versicherung oder […]
Ressourcenprüfung; Wann dürfen Gerichte vom Gutachten abweichen?
Das Bundesgericht hatte sich in einem invalidenversicherungsrechtlichen Fall wieder einmal mit der Frage zu beschäftigen, ob im Rahmen der Ressourcenprüfung (BGE 141 V 281) von medizinischen Gutachten abgewichen werden kann. Hier gilt der Grundsatz, dass wenn das medizinische Gutachten umfassend und nachvollziehbar begründet ist sowie die Grundsätze der Ressourcenprüfung berücksichtigt, die rechtsanwendende Stelle (Versicherung oder Gericht) davon nicht abweichen darf (Verbot der juristischen Parallelüberprüfung, BGE 145 V 361).
Da die zentrale Frage die Einschränkung der Funktionalität darstellt, hat sich das Gutachten vor allem diesbezüglich zu äussern. Im vorliegenden Fall haben die Gutachter eine «deutliche Beschwerdebetonung» festgestellt, deren Auswirkungen auf die Funktionalitäten jedoch nicht näher erläutert, sondern offenbar nur auf die Ergebnisse des Mini-ICF-APP Ratings abgestellt. Das hat das Bundesgericht als unzureichend erachtet und den kantonalen Entscheid, in welchem im Rahmen der Ressourcenprüfung von der gutachterlichen Einschätzung abgewichen wurde, gestützt.
Das Urteil soll in der amtlichen Sammlung publiziert werden. Die Gründe, weshalb das Urteil in die amtliche Sammlung aufgenommen wird, sind daraus nicht klar ersichtlich. Man darf deshalb auf die Regeste in der amtlichen Sammlung gespannt sein.
Nach dem Anhang des FZA sowie Art. 2 Abs. 6 KVV können Personen auf Gesuch hin von der schweizerischen Versicherungspflicht im KVG ausgenommen werden, wenn: sie in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union wohnen nach dem Anhang FZA von der Versicherungspflicht befreit werden können nachweisen, dass sie während eines Aufenthaltes in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen […]
Relative Widerrufbarkeit des Optionsrechts zur Unterstellung unter die schweizerische obligatorische Grundversicherung
Nach dem Anhang des FZA sowie Art. 2 Abs. 6 KVV können Personen auf Gesuch hin von der schweizerischen Versicherungspflicht im KVG ausgenommen werden, wenn:
sie in einem Mitgliedsstaat der Europäischen Union wohnen
nach dem Anhang FZA von der Versicherungspflicht befreit werden können
nachweisen, dass sie während eines Aufenthaltes in einem anderen Mitgliedsstaat der Europäischen Union und die Schweiz für den Krankheitsfall gedeckt sind.
Die Praxis ist davon ausgegangen, dass die einmal getroffene Wahl nicht widerrufen werden kann.
Als Ergänzung zu ausländischen Lösungen haben sich offenbar viele Versicherte, die sich von der Unterstellung unter die schweizerische Krankenversicherung haben befreien lassen, neben den ausländischen Sozialversicherungsdeckungen bei der SWICA über die Versicherung MONDIAL versichert. Dies um den gleichwertigen Versicherungsschutz sicher zu stellen. Die SWICA hat das Versicherungsprodukt 2016 eingestellt. Damit waren die versicherungsmässigen Voraussetzungen (gleichwertiger Versicherungsschutz) für die Ausübung des Optionsrechtes nicht mehr gegeben.
Das Bundesgericht hat bereits früher einmal (9C_561/2016, am 27. März 2017) entschieden, dass das Optionsrecht einen «relativ widerruflichen Charakter» habe.
Im nun vorliegenden Entscheid war umstritten, ob mit der Einstellung des Versicherungsproduktes MONDIAL ein Grund für eine Neuausübung des Optionsrechtes bestand. Das Bundesgericht hat entschieden, dass der unverschuldete Verlust der Krankenversicherungsdeckung durch die Einstellung eines VVG-Versicherungsproduktes einen besonderen Grund darstellt, welcher eine erneute Optionierung resp. das Zurückkommen auf den Optionsentscheid zulässt.
Nicht geäussert hat sich das Bundesgericht zur Frage der Frist zur Wiederausübung des Optionsrechtes. Hier geht die Praxis von einer 3-monatigen Frist aus. Inwieweit diese Frist einzuhalten ist resp. wann sie als eingehalten gilt, wird in Folgeurteilen zu klären sein.