Neue bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Depressionen und psychischen Erkrankungen; Urteile BGE 143 V 409 und 143 V 418
Weshalb hat das Bundesgericht eine „neue“ Rechtsprechung geschaffen? Ausgangspunkt war die in den letzten Jahren vom Bundesgericht entwickelte Rechtsprechung zu Depressionen. Bei Depressionen wurde ein Anspruch auf eine IV-Rente nur dann begründet, wenn sie als „therapieresistent“ galten. Dahinter steckte die Annahme, dass Depressionen in der Regel leicht zu therapieren sind. Diese Praxis wurde von Ärzten […]
Neue bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Depressionen und psychischen Erkrankungen; Urteile BGE 143 V 409 und 143 V 418
Weshalb hat das Bundesgericht eine „neue“ Rechtsprechung geschaffen?
Ausgangspunkt war die in den letzten Jahren vom Bundesgericht entwickelte Rechtsprechung zu Depressionen. Bei Depressionen wurde ein Anspruch auf eine IV-Rente nur dann begründet, wenn sie als „therapieresistent“ galten. Dahinter steckte die Annahme, dass Depressionen in der Regel leicht zu therapieren sind. Diese Praxis wurde von Ärzten stark kritisiert. In den neuen Urteilen BGE 143 V 409 und 143 V 418 vom 30. November 2017 hat das Bundesgericht nun anerkannt, dass diese Vermutung so absolut nicht gilt, weshalb es eine neue Lösung brauche.
Was ist Inhalt der neuen Praxis?
Das Bundesgericht hat für Depressionen und andere psychischen Leiden (Präzisierung unter Frage 3) die bis anhin für somatoforme Schmerzstörungen und vergleichbare psycho-somatische Leiden entwickelte Rechtsprechung mit einem „ergebnisoffenen, strukturierten Beweisverfahren“ (BGE 141 V 241) für anwendbar erklärt. Das früher entscheidende Kriterium der Therapierbarkeit wurde somit insoweit relativiert, als dass dieses nur noch bei der Indikatorenprüfung zur Anwendung kommt.
Für welche Krankheiten gilt die neue Rechtsprechung?
Ganz grundsätzlich erklärt das Bundesgericht die neue Rechtsprechung für sämtliche psychiatrischen Krankheitsbilder als anwendbar, wobei bei der Prüfung der Arbeitsunfähigkeit je nach Krankheitsbild die Kriterien/Indikatoren etwas anzupassen sind.
Fälle, die so klar sind, dass das strukturierte Beweisverfahren nicht nötig ist – insbesondere wenn prägnante Befunde über eine fachärztliche Einschätzung bezüglich Diagnose und Arbeitsunfähigkeit bestehen-, sind ohne das Beweisverfahren zu erledigen.
Was beinhaltet das „ergebnisoffene, strukturierte Beweisverfahren“?
Das Bundesgericht hat ein einheitliches Verfahren für die Prüfung dieser Beschwerden vorgesehen, wobei die folgenden Beweisschwerpunkte gesetzt werden:
- Schwergrad der Erkrankung
- Konsistenz (Verhalten) des Versicherten
- Die beiden Beweisthemen werden anhand der nachfolgenden Struktur geprüft.
Was ist die Rolle der Ärzte/Gutachter im ergebnisoffenen strukturierten Beweisverfahren?
Im Grundsatzurteil für die Schmerzstörungen ohne erklärbare organische Ursachen (somatoforme Schmerzstörungen) und vergleichbare psychosomatische Leiden geändert (BGE 141 V 281) hat das Bundesgericht die Rolle der Ärzte/Gutachter darin gesehen, dass diese im Regelfall anhand der Standardindikatoren schlüssig begründen müssen, inwiefern sich aus funktionellen Ausfällen eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ergibt. Die Indikatorenprüfung sei dann in einem zweiten Schritt durch die rechtsanwendende Behörde (Gerichte/Versicherungen) vorzunehmen. Die Ärzte werden also als „Zudiener“ für die Entscheidung der Versicherungen betrachtet. Da scheint sich auch mit der neuen Rechtsprechung grundsätzlich nichts geändert zu haben.
In einem neueren Urteil (BGer 8C_260/2017 vom 1. Dezember 2017) wurde diese Aufgabenteilung jedoch etwas „aufgeweicht“. In diesem Urteil wurde entschieden, dass zur Beurteilung der Arbeitsfähigkeit auf die Einschätzung der medizinischen Sachverständigen abzustellen ist, wenn die Feststellungen anhand der rechtserheblichen Indikatoren auf eine Arbeitsfähigkeit schliessen lassen. Das impliziert, dass die Verwaltung von einer medizinisch attestierten Arbeitsunfähigkeit nicht abweichen darf, wenn die Ärzte die Kriterien des strukturierten Beweisverfahrens berücksichtigt haben und deren Beurteilung nachvollziehbar ist.
Ist die neue Rechtsprechung auf laufende oder alte Fälle anzuwenden?
Die Rechtsprechung kommt auf all diejenigen Fälle zur Anwendung, welche von der Invalidenversicherung oder von den Gerichten noch nicht entschieden sind. Ob frühere unter der „alten“ Depressionsrechtsprechung abgewiesene Fälle nun wieder aufgerollt werden können, ist nicht abschliessend geklärt, jedoch eher zu verneinen. Bei früheren Rechtsprechungsänderungen hat das Bundesgericht jeweils einen Revisionsgrund verneint.