Unfall(-versicherung) am Berg?
Kaspar Gehring hat im HAVE 03/2024 zur Leistungspflicht der Unfallversicherung bei Unfällen am Berg, wie Skifahren und Bergwanderungen, publiziert. Den Beitrag im HAVE finden Sie hier.
Kaspar Gehring hat im HAVE 03/2024 zur Leistungspflicht der Unfallversicherung bei Unfällen am Berg, wie Skifahren und Bergwanderungen, publiziert. Den Beitrag im HAVE finden Sie hier.
Kaspar Gehring hat im HAVE 03/2024 zur Leistungspflicht der Unfallversicherung bei Unfällen am Berg, wie Skifahren und Bergwanderungen, publiziert. Den Beitrag im HAVE finden Sie hier.
Kaspar Gehring hat in der AJP 08/2024, das zur Publikation vorgesehene Urteil des Bundesgerichts 9C_385/2023 vom 08.05.2024 besprochen. Die Pflege durch bei Spitexorganisationen angestellte Angehörige nimmt im Pflegealltag einen immer gewichtigeren Stellenwert ein. Hierbei stellten sich immer wieder rechtliche Fragen von grosser Tragweite. Eine solche hat das Bundesgericht im Urteil vom 8. Mai 2024 entschieden, indem […]
Kaspar Gehring hat in der AJP 08/2024, das zur Publikation vorgesehene Urteil des Bundesgerichts 9C_385/2023 vom 08.05.2024 besprochen. Die Pflege durch bei Spitexorganisationen angestellte Angehörige nimmt im Pflegealltag einen immer gewichtigeren Stellenwert ein. Hierbei stellten sich immer wieder rechtliche Fragen von grosser Tragweite. Eine solche hat das Bundesgericht im Urteil vom 8. Mai 2024 entschieden, indem es die psychiatrische Grundpflege durch Angehörige als zulässig und durch die obligatorische Grundversicherung entschädigungspflichtig bezeichnet hat.
Die Urteilsbesprechung in der AJP finden Sie hier.
Beim Erlass der Rückerstattung von unrechtmässig bezogenen Leistungen soll gemäss Bundesgericht vermehrt den besonderen Umständen des Einzelfalles Rechnung getragen werden. Das Bundesgericht hatte sich in einem zur Publikation vorgesehen Entscheid (9C_202/2023 vom 21. Dezember 2023) mit der Beantwortung der Frage nach den Voraussetzungen der grossen Härte bei einer juristischen Person im Rahmen eines Erlassgesuches zu […]
Beim Erlass der Rückerstattung von unrechtmässig bezogenen Leistungen soll gemäss Bundesgericht vermehrt den besonderen Umständen des Einzelfalles Rechnung getragen werden.
Das Bundesgericht hatte sich in einem zur Publikation vorgesehen Entscheid (9C_202/2023 vom 21. Dezember 2023) mit der Beantwortung der Frage nach den Voraussetzungen der grossen Härte bei einer juristischen Person im Rahmen eines Erlassgesuches zu beschäftigen.
Die Ausgleichskasse forderte von einer GmbH zu viel ausgerichtete Coronaerwerbsersatzentschädigung zurück, welche für die beiden Arbeiternehmenden in arbeitgeberähnliche Stellung bezogen worden waren.
Die Ausgleichskasse vertrat die Ansicht, dass für die Beurteilung der grossen Härte die zu Art. 40 AHVV ergangene Rechtsprechung analogieweise heranzuziehen sei. Dabei argumentierte sie, dass gemäss BGE 113 V 248 die grosse Härte bei juristischen Personen eine bestehende und unmittelbar drohende Überschuldung voraussetze. Eine solche liege vor, wenn die Forderungen der Gesellschaftsgläubiger durch die Aktiven nicht mehr gedeckt seien. Dabei sei ein strenger Massstab anzulegen und der Erlass nur restriktiv zu gewähren.
Die Vorinstanz folgte dieser Betrachtungsweise nicht mit dem Hinweis, dass es hier nicht um den Erlass der Nachzahlung von Beiträgen, sondern um den Erlass der Rückerstattung von Leistungen gehe, in welchem Bereich sich gemäss Urteil I 553/01 vom 28. Juni 2002 (publ. in AHI S. 159) ein milder Massstab zur Bestimmung der grossen Härte (ernsthafte finanzielle Schwierigkeiten aufgrund der Rückerstattung) rechtfertige.
Das Bundesgericht kam zum Schluss, dass die von der Vorinstanz zur Anwendung gebrachte mildere Rechtsprechung auf den zu beurteilenden Fall nicht anwendbar ist. Es begründete seinen Entscheid damit, dass es bei der Beurteilung der wirtschaftlichen Lage einer juristischen Person zwar durchaus Gründe gebe, beim Beitragserlass einen strengeren Massstab anzuwenden als betreffend die Rückerstattung von Leistungen. Der Erlass der Nachzahlung sei deshalb nur restriktiv zu gewähren, weil er eine Ausnahme von Grundprinzip der AHV-Beitragsordnung darstelle, welche, ohne Rücksicht auf die finanzielle Leistungsfähigkeit, auf der Erhebung von Lohnprozenten beruhe. Mit Verweis auf den von der Vorinstanz herangezogenen Entscheid (I 553/01) führte es weiter aus, dass es sich beim Erlass der Rückerstattung von Leistungen vermehrt rechtfertige, den besonderen Umständen des Einzelfalles Rechnung zu tragen. Diesem Entscheid lag der Sachverhalt zu Grunde, wonach eine Arbeitgeberin ihrem Arbeitnehmer trotz vermindeter Arbeitsfähigkeit den vollen Lohn ausgerichtet hatte, sie sich jedoch im Gegenzug von der Ausgleichskasse die dem Arbeitnehmer später rückwirkend zugesprochene IV-Rente auszahlen liess. Als sich im Nachhinein herausgestellt hatte, dass die Drittauszahlung zu Unrecht erfolgt war und die Ausgleichskasse die Rückerstattung der Rentenbetreffnisse von der Arbeitgeberin zurückforderte, bejahte das Bundesgericht wegen der besonderen Umstände das Vorliegen einer grossen Härte und liess es genügen, dass die Rückzahlung der zu Unrecht bezogenen Leistungen die Gesellschaft in ernste finanzielle Schwierigkeiten gebracht hätte bzw. forderte nicht, dass bereits eine Überschuldung der Gesellschaft vorliegt bzw. die Rückerstattung zu einer solchen führen würde (I 553/01 E. 4a). Besondere, einen milderen Massstab rechtfertigende Umstände erblickte das Bundesgericht im damals zu beurteilenden Fall darin, dass sich die Arbeitgeberin durch den Bezug der sich im Nachhinein als zu Unrecht an sie ausgerichteten Leistungen nicht bereichert, sondern dem Versicherten entsprechende Vorschussleistungen erbracht hatte. Weiter hielt es das Gericht für relevant, dass aus den zu Unrecht erfolgten Zahlungen auch keine Mittel mehr vorgelegen hätten, aus welchen die Rückerstattung hätte erfolgen können.
Das Bundesgericht sah im vorliegend zu beurteilenden Fall den Unterschied zu demjenigen gemäss I 553/01 darin, dass Zahlungen zur Diskussion standen, welche die GmbH für ihre Inhaber bzw. Arbeitnehmenden in arbeitgeberähnlicher Stellung erhalten hatte. Darin sei ein Vorteil für die GmbH zu erblicken. Damit kam es zum Schluss, dass für die Beurteilung der grossen Härte vorliegend der (grundsätzlich anwendbare) strenge Massstab gelte.
Bei der Prüfung der Frage, ob bereits eine Überschuldung der GmbH eingetreten ist oder eine solche unmittelbar droht, musste das Bundesgericht im vorliegenden Verfahren auch noch entscheiden, ob der bezogene Covid-19-Kredit als Fremd- oder Eigenkapital zu berücksichtigen ist. Mit Verweis auf Art. 24 des Bundesgesetzes über Kredite mit Solidarbürgschaft infolge des Coronavirus (SBüG), wonach für die Berechnung der Deckung von Kapital und Reserven bzw. einer Überschuldung (Art. 725 Abs. 1 und 2 OR) die gestützt auf Art. 3 Covid-19-SBüV vergebenden, zu 100 % verbürgten Covid-19-Kredite bis Fr. 500’000.— nicht als Fremdkapital berücksichtigt würden, brachte die Ausgleichskasse vor, der von der GmbH bezogene Covid-Kredit sei demnach als Eigenkapital zu qualifizieren. Das Bundesgericht sah aber ausserhalb des Anwendungsbereiches von Art. 24 Covid-19-SBüG keinen Anlass dafür. So kam es zum Schluss, dass der Covid-19-Kredit bei der Beurteilung der Frage nach dem Bestand einer Überschuldung oder ob eine solche unmittelbar droht im Rahmen des vorliegenden Erlassgesuches – wie alle anderen Kredite – als Fremdkapital zu berücksichtigen sei.
Unter Qualifizierung des Covid-19-Kredites als Fremdkapital lag eine Überschuldung der GmbH vor, weshalb das Bundesgericht die grosse Härte bejahte. Insgesamt wurde die Angelegenheit in sinngemässer Gutheissung der Beschwerde an die Ausgleichskasse zurückgewiesen zur Prüfung der Frage nach dem gutgläubigen Leistungsbezug.
Es ist zu begrüssen, wenn das Bundesgericht bei der Rückerstattung von unrechtmässig bezogenen Leistungen den besonderen Umständen des Einzelfalles vermehrt Rechnung zu tragen gedenkt. Ob die Rechtsprechung auch bei Erlassgesuchen von natürlichen Personen für die Besonderheiten des Einzelfalles offen sein wird, wird die Zukunft zeigen.
Urteil 9C_202/2023 vom 21. Dezember 2023, zur Publikation vorgesehen
Hier Link zum Youtube Video, welcher die Mitteilung genauer bespricht. In doppelter Hinsicht eine erfreuliche Mitteilung. Mit Medienmitteilung vom 4. Oktober 2023 (https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/publikationen-und-service/medieninformationen/nsb-anzeigeseite.msg-id-98053.html) hat das BSV mitgeteilt, dass die seit langem in der Kritik stehende Gutachterstelle PMEDA Zürich keine Aufträge der Invalidenversicherung mehr erhält. Ursächlich dafür sind offenbar von der neu eingesetzten Kommission für die […]
Hier Link zum Youtube Video, welcher die Mitteilung genauer bespricht.
In doppelter Hinsicht eine erfreuliche Mitteilung.
Mit Medienmitteilung vom 4. Oktober 2023 (https://www.bsv.admin.ch/bsv/de/home/publikationen-und-service/medieninformationen/nsb-anzeigeseite.msg-id-98053.html) hat das BSV mitgeteilt, dass die seit langem in der Kritik stehende Gutachterstelle PMEDA Zürich keine Aufträge der Invalidenversicherung mehr erhält. Ursächlich dafür sind offenbar von der neu eingesetzten Kommission für die Qualität der medizinischen Begutachtungen (EKQMB) festgestellte Mängel an die Anforderungen und die Qualitätskriterien von solchen Gutachten.
Die Mitteilung ist in doppelter Hinsicht erfreulich.
So liegt es im Interesse einer objektiven, neutralen und fairen Beurteilung von Leistungsansprüchen, dass die Gutachterstelle PMEDA keine weiteren Gutachten mehr erhält. Alsdann zeigt es auch, dass die EKQMB ihre Aufgabe sehr ernst nimmt und deren Empfehlungen im BSV auch berücksichtigt werden. Vor diesem Hintergrund ist zu hoffen, dass die Kommission weiterhin kritisch die Gutachterstellen überprüft.
Welche Mängel festgestellt wurden, geht aus der Medienmitteilung nicht hervor. Diese Umstände werden jedoch massgeblich sein für die Frage, wie mit den Fällen umzugehen ist, in welchen Sozialversicherungen gestützt auf PMEDA-Gutachten Leistungsansprüche abgewiesen haben. Das BSV schreibt, dass in abgeschlossenen Fällen keine Neubeurteilung vorgenommen wird. So absolut gilt das sicher nicht. Relevant muss sein, welche Mängel bestanden haben.
Zutreffend ist sicher, dass – wie das BSV schreibt – die laufenden Fälle genau überprüft werden. Ebenso ist zu fordern, dass bei Neuanmeldungen nach PMEDA-Gutachten der Umstand der mangelnden Qualität mitberücksichtigt wird.
Die weiteren Entwicklungen bleiben also spannend!
9 aus 250 Urteilen Das Bundesgericht hat im letzten Jahr rund 250 Urteile im Unfallversicherungsrecht gefällt und veröffentlicht. Angesichts der Fülle der Urteile würde eine umfassende Darstellung zur Zusammenfassung der Rechtsprechung jeglichen Rahmen sprengen. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich daher auf eine Auswahl von neun «kennenswerten» Urteilen. Diverse weitere Urteile wurden in früheren Ausgaben von […]
9 aus 250 Urteilen
Das Bundesgericht hat im letzten Jahr rund 250 Urteile im Unfallversicherungsrecht gefällt und veröffentlicht. Angesichts der Fülle der Urteile würde eine umfassende Darstellung zur Zusammenfassung der Rechtsprechung jeglichen Rahmen sprengen. Der vorliegende Beitrag beschränkt sich daher auf eine Auswahl von neun «kennenswerten» Urteilen. Diverse weitere Urteile wurden in früheren Ausgaben von HAVE/REAS in der Rubrik Rechtsprechung/Jurisprudence mehr oder minder ausführlich zusammengefasst und besprochen. Der interessierten Leserin und dem interessierten Leser sei daher auch die Konsultation der früheren Hefte empfohlen, um den Überblick über das «Unfallversicherungsjahr» zu vervollständigen
Dieser Beitrag wurde erstveröffentlicht in der HAVE 3/2022
Link zum vollständigen Beitrag: GEHRING_KASPAR_Have_03_2022_297-304
Hat eine Versicherung zu Unrecht Leistungen bezahlt, muss sie rasche Abklärungen tätigen, sobald sie davon erfährt. Das Bundesgericht hat sich erstmals dazu geäussert, wann die Verwirkungsfrist für den Rückforderungsanspruch zu laufen beginnt. Im Juni 2006 wurde ein 41-jähriger in der Schweiz als Küchenhilfe arbeitender Mann getötet. Die Unfallversicherung seines Arbeitgebers, die Schweizerische Mobiliar, sprach seiner […]
Hat eine Versicherung zu Unrecht Leistungen bezahlt, muss sie rasche Abklärungen tätigen, sobald sie davon erfährt. Das Bundesgericht hat sich erstmals dazu geäussert, wann die Verwirkungsfrist für den Rückforderungsanspruch zu laufen beginnt.
Im Juni 2006 wurde ein 41-jähriger in der Schweiz als Küchenhilfe arbeitender Mann getötet. Die Unfallversicherung seines Arbeitgebers, die Schweizerische Mobiliar, sprach seiner damals im Ausland lebenden Ehefrau eine Witwenrente und seinen fünf Kindern eine Waisenrente zu. Im Jahr 2010 reisten die Hinterbliebenen in die Schweiz ein und stellten ein Asylgesuch, worauf die Ausgleichskasse Zug ihnen per 1. Mai 2010 Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung gewährte. Die Schweizerische Mobiliar, die ihre Renten nun hätte kürzen können, erhielt davon offenbar keine Kenntnis.
Am 8. Juli 2018 gelangte die Beiständin einer Tochter des Verstorbenen an die Schweizerische Mobiliar und teilte ihr mit, dass die AHV-Hinterlassenen-Rente der (über 18 Jahre alten) Tochter eingestellt worden sei, weil sie ihre Lehre abgebrochen hatte. Die Beiständin tat dies, um herauszufinden, ob auch die von der Schweizerischen Mobiliar ausgerichtete Waisenrente eingestellt werde. Bei dieser Gelegenheit erfuhr die Schweizerische Mobiliar erstmals von der Auszahlung der AHV-Hinterlassenen-Renten. Am darauffolgenden Tag, dem 9. Juli 2018, antwortete sie der Beiständin, die Rente der Unfallversicherung sei infolge des Lehrabbruchs ebenfalls eingestellt worden.
Etwas mehr als 7 Monate später, am 12. Februar 2019, erkundigte sich die Schweizerische Mobiliar bei der Ausgleichskasse Zug nach den AHV-Hinterlassenen-Renten. Aufgrund der erhaltenen Informationen berechnete sie ihre UVG-Komplementärrenten neu und forderte mit Verfügung vom 16. August 2019 wegen bislang unterbliebener Berücksichtigung der AHV-Hinterlassenenrenten vom Sozialamt Zug Fr. 117’326.65 zurück. Das Sozialamt Zug verweigerte jedoch die Zahlung und erhob Einsprache. Im März 2020 wies die Schweizerische Mobiliar die Einsprache ab, wogegen das Sozialamt Zug Beschwerde erhob. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug hiess diese Beschwerde im März 2022 gut und hob den Einspracheentscheid der Schweizerischen Mobiliar vom März 2020 auf. Dagegen gelangte die Schweizerische Mobiliar ans Bundesgericht.
Diese Beschwerde hat das Bundesgericht in seinem Urteil vom 16. November 2022 nun abgewiesen. Gemäss Art. 25 Abs. 1 erster Satz ATSG müssen unrechtmässig bezogene Leistungen (von Sozialversicherungen) zurückzuerstatten werden. Bis zum 31. Dezember 2020 sah das Gesetz vor, dass der Rückforderungsanspruch des betroffenen Versicherers mit Ablauf eines Jahres erlischt nachdem er davon Kenntnis erhalten hat (seit dem 1. Januar 2021 sind es neu drei Jahre; sog. relative Verwirkungsfrist). Spätestens erlischt der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Auszahlung der Leistung (absolute Verwirkungsfrist). Verpasst es der Versicherer, innerhalb dieser Fristen eine Rückforderungsverfügung (Art. 3 Abs. 1 ATSV) zu erlassen, verwirkt sein Anspruch.
Das Bundesgericht hat die Frage beurteilen müssen, ob der Rückforderungsanspruch der Schweizerischen Mobiliar im Zeitpunkt ihrer Rückforderungsverfügung vom August 2019 verwirkt war. Es hat dafür insbesondere geprüft, wann die einjährige relative Verwirkungsfrist zu laufen begann. Der Rückforderungsanspruch als solcher ist unbestritten gewesen.
Die Vorinstanz, das Verwaltungsgericht des Kantons Zug, stellte für die Berechnung des Fristenlaufs auf die E-Mail der Beiständin der Tochter des Verstorbenen vom 8. Juli 2018 an die Schweizerische Mobiliar ab. Mit dieser E-Mail habe die Mobiliar von der Auszahlung der Hinterlassenenrente der AHV Kenntnis erhalten. Erst am 12. Februar 2019 habe sie sich bei der Ausgleichskasse Zug nach den Verfügungen erkundigt. Bei grosszügiger Hinzurechnung einer Abklärungsfrist von drei Wochen, innert der die Schweizerische Mobiliar den Rückforderungsanspruch hätte genauer prüfen müssen, habe die relative einjährige Verwirkungsfrist am 1. August 2018 zu laufen begonnen und am 31. Juli 2019 geendet. Da die Schweizerische Mobiliar die Rückerstattung in der dafür vorgesehenen Form (einer Verfügung) erst am 16. August 2019 beschlossen habe, sei die Frist nicht eingehalten worden und ihr Anspruch verwirkt.
Das Bundesgericht hat auf seine jüngste Rechtsprechung zum Beginn der Verwirkungsfrist und zur Dauer der Abklärungsfrist verwiesen, gemäss welcher die einjährige relative Verwirkungsfrist im Zeitpunkt der zumutbaren Kenntnisnahme einsetzen könne. Die Verwaltung solle zwar eine angemessene Zeit für nähere Abklärungen (betreffend Grundsatz, Ausmass oder Adressat) erhalten, wenn und soweit sie über hinreichende, aber noch unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch verfüge. Unterlasse sie dies, so sei der Beginn der relativen (einjährigen) Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die rückfordernde Behörde ihre unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz derart zu ergänzen im Stande gewesen sei, dass der Rückforderungsanspruch habe geltend gemacht werden können. Ergebe sich die Unrechtmässigkeit der Leistung direkt aus den Akten, so beginne die einjährige Frist sofort, ohne dass Zeit für eine weitere Abklärung zugestanden würde (BGE 148 V 217 E. 5, insb. E. 5.2.2 mit Hinweisen).
Indem die Schweizerische Mobiliar mit E-Mail vom 8. Juli 2018 von der ausgerichteten Hinterlassenenrente der AHV erfahren und der Beiständin am Folgetag eine Antwort gegeben hatte, verfügte sie am 9. Juli 2018 über hinreichende Hinweise für einen möglichen Rückforderungsanspruch. Dies gelte in Bezug auf alle Hinterlassenen, da die Ausrichtung von Hinterlassenenrenten der AHV an die weiteren Familienmitglieder bei einer solchen Ausgangslage naheliegend und darum näher zu prüfen sei. Weil der Hinweis am 8. Juli 2018 noch unvollständig gewesen sei, habe die Vorinstanz der Schweizerischen Mobiliar zurecht drei Wochen für nähere Abklärungen zugebilligt. Eine solche Dauer sei in der gegebenen Konstellation ausreichend, um die zur Neuberechnung der Komplementärrente nötigen Verfügungen einzuholen und allenfalls weitere Abklärungen hierzu zu treffen. Die Verwirkungsfrist habe somit am 1. August 2018 zu laufen begonnen und am 31. Juli 2019 geendet. Die Rückforderungsverfügung der Schweizerischen Mobiliar erging am 16. August 2019, als ihr Rückforderungsanspruch bereits verjährt gewesen sei. Die Beschwerde der Schweizerischen Mobiliar sei folglich abzuweisen.
Würdigung:
Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid erstmals eine Frist (drei Wochen) genannt, während welcher ein Versicherungsträger (welcher hinreichende, aber unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch hat) seinen Anspruch abklären muss. In seinem Leitentscheid BGE 148 V 217 (E. 5.2.2) hatte das Gericht noch davon abgesehen, die zuzugestehende Dauer für Abklärungen allgemein-abstrakt festzulegen, und bloss erklärt, sie sei den konkreten Umständen des Einzelfalls angemessen zu definieren. Das Urteil präzisiert somit die bisherige Rechtsprechung.
Der Entscheid ist auch bedeutend für versicherte Personen, die Leistungen zu Unrecht bezogen haben, was in der Praxis immer wieder vorkommt (auch wenn dies längst nicht immer die versicherte Person selbst zu verantworten hat). Die zu Unrecht leistende Versicherung ist dazu verpflichtet, Hinweisen auf solche unrechtmässigen Auszahlungen zügig abzuklären. Das Problem der drohenden Verwirkung des Rückforderungsanspruchs hat der Gesetzgeber seit Januar 2021 aber insofern entschärft, als neu eine relative Verwirkungsfrist (ab Kenntnis des Rückforderungsanspruchs) von drei Jahren – statt wie zuvor von einem Jahr – gilt. Nach neuem Recht wäre der Rückforderungsanspruch der Schweizerischen Mobiliar denn auch nicht verwirkt gewesen.
Zu erwähnen bleibt, dass das Bundesgericht in seinem Urteil an einer Stelle fälschlicherweise von einem „Verjähren“ des Rückforderungsanspruchs schreibt. Das steht im Widerspruch zur eigenen konstanten Rechtsprechung, wonach es sich bei den Fristen von Art. 25 Abs. 2 ATSG um Verwirkungsfristen handelt, und dürfte sich deshalb um einen Verschrieb handeln.
Urteil BGer vom 16. November 2022, 8C_235/2022
Wie jedes Jahr organisiert KSPartner die Invaliditätstagung. Die nächste Durchführung findet am 23. März 2023 zum Thema „Arbeitsunfähigkeit – Nur arbeitsplatzbezogen oder doch mehr?“ statt. Mit ausgewählten Fachexpert:innen blicken wir etwas über den Tellerrand des Versicherungsrechts ins Arbeitsrecht und in die Versicherungsmedizin. Es werden Konstellationen bei Arbeitsunfähigkeiten beleuchtet, in welchen nebst versicherungsrechtlichen Ansprüchen vor allem […]
Wie jedes Jahr organisiert KSPartner die Invaliditätstagung. Die nächste Durchführung findet am 23. März 2023 zum Thema „Arbeitsunfähigkeit – Nur arbeitsplatzbezogen oder doch mehr?“ statt. Mit ausgewählten Fachexpert:innen blicken wir etwas über den Tellerrand des Versicherungsrechts ins Arbeitsrecht und in die Versicherungsmedizin. Es werden Konstellationen bei Arbeitsunfähigkeiten beleuchtet, in welchen nebst versicherungsrechtlichen Ansprüchen vor allem arbeitsrechtliche Ansprüche und Handlungspflichten bei Arbeitsunfähigkeiten bestehen.
Natürlich werden wie immer auch die Entwicklungen in der Rechtsprechung im Haftpflicht-, Versicherungs- und Sozialversicherungsrecht aufgearbeitet.
Weitere Informationen und das detaillierte Tagungsprogramm finden Sie hier.
Im Rahmen der Abklärungen des Leistungsanspruchs holte die Suva im Rahmen des Einspracheverfahrens ein orthopädisch-traumatologisches Gutachten bei Prof. Dr. med. D., Leiter der Klinik für Traumatologie am Spital C., ein. Gestützt darauf hielt die Suva im Einspracheentscheid an der Leistungseinstellung unverändert fest. In der Folge hatte sich das Bundesgericht mit der Rechtmässigkeit der Gutachtensvergabe und […]
Im Rahmen der Abklärungen des Leistungsanspruchs holte die Suva im Rahmen des Einspracheverfahrens ein orthopädisch-traumatologisches Gutachten bei Prof. Dr. med. D., Leiter der Klinik für Traumatologie am Spital C., ein. Gestützt darauf hielt die Suva im Einspracheentscheid an der Leistungseinstellung unverändert fest. In der Folge hatte sich das Bundesgericht mit der Rechtmässigkeit der Gutachtensvergabe und der Beweiswertigkeit des Gutachtens zu befassen.
Prof. Dr. med. D. wurde persönlich mandatiert. Weder die Suva noch die kantonale Vorinstanz gingen davon aus, die Vergabe des Auftrags sei an eine institutionelle Begutachtungsstelle, hier die Klinik für Traumatologie am Spital C., erfolgt. Das Gutachten ist allein von Prof. Dr. med. D. unterzeichnet. Nicht erwähnt wird die Mitwirkung von Dr. med. E. Dieser nahm unbestrittenermassen am ersten Tag der Exploration den überwiegenden Teil der Untersuchungen vor, also Aufgaben, die für die Gutachtenserstellung von grundlegender Bedeutung sind. Das Bundesgericht ging folglich von der Mitwirkung von Prof. Dr. med. E. bei der Erstellung des Gutachtens aus. Für diese Mitwirkung spricht insbesondere auch der Umstand, dass das Sekretariat von Prof. Dr. med. D. die Suva bezüglich der Exploration des verunfallten Versicherten an Prof. Dr. med. E. verwies, und dieser weiter auch gegenüber der Suva den Empfang der Akten bestätigte.
Das Bundesgericht hatte folglich zu prüfen, ob durch diese Mitwirkung von Prof. Dr. med. E. die durch Art. 44 ATSG Voraussetzungen für die Einholung von externen Gutachten eingehalten wurden oder nicht.
Das Bundesgericht erinnerte an seine Rechtsprechung von BGE 146 V 9, E. 4.2.3, dass Art. 44 ATSG und die Mitwirkungsrechte der versicherten Person die Bekanntgabe die Namen der beauftragten Personen vor der Begutachtung beinhaltet. Dies erstreckt sich nicht auf Dritte, welche den Gutachter bei Nebentätigkeiten – wie beispielsweise die Durchführung medizinischer Analysen wie bspw. eine Blutentnahme – unterstützt, die nicht zu den Kernaufgaben der Begutachtung gehören. Nicht zu diesen Nebentätigkeiten gehört die Erstellung der grundlegenden Anamnese der versicherten Person, die Zusammenfassung und Analyse der Krankenakte oder die Überprüfung des Gutachtens auf seine Stichhaltigkeit hin. Die intellektuelle Aktivität, die der Arzt in diesen Situationen entfaltet, kann das Ergebnis des Gutachtens beeinflussen, weshalb in diesen Fällen keine untergeordnete Nebentätigkeit vorliegt (BGE 146 V 9, E. 4.2.3).
Angewendet auf den vorliegenden Fall bedeutet dies, so das Bundesgericht, dass das Vorgehen aufgrund der Mitwirkung von Prof. Dr. med. E. bei der Beauftragung und der Durchführung des Gutachtensauftrages nicht den Anforderungen von Art. 44 ATSG entsprochen hat und das Gutachten damit grundsätzlich nicht beweiswertig ist und durch dieses Vorgehen das rechtliche Gehör des Versicherten verletzte. Dieses Ergebnis ist begrüssenswert.
Das Bundesgericht lässt leider aber eine Hintertür offen. Es hält fest, dass das Gutachten „dergestalt zumindest vorläufig“ nicht beweiswertig ist, und weist die Angelegenheit an die Suva zurück, damit diese insbesondere den konkreten Umfang der Mitwirkung von Prof. Dr. med. E. abklärt. Das ist nicht nachvollziehbar, hat das Bundesgericht doch deutlich festgehalten, dass Prof. Dr. med. E. mit der unbestrittenen „Übernahme der Untersuchungen“ eben gerade keine untergeordneten Aufgaben durchgeführt hat. Was für neue Erkenntnisse aus den weiteren Abklärungen und/oder der nachträglichen Zustimmung von Prof. Dr. med. E. zum Gutachten, durch die Suva noch hervorgehen sollten, die an diesem Ergebnis und der daraus folgenden Beweiswertigkeit etwas ändern könnten, erschliesst sich nicht. Vielmehr wäre wohl grundsätzlich ein neues Gutachten unter Einhaltung der Regeln von Art. 44 ATSG einzuholen.
Urteil BGer 8C_171/2022 vom 8. November 2022
Dass sich Patienten von ihren Ärzten ungenügend aufgeklärt oder falsch behandelt fühlen, kommt oft vor. Klagen gegen behandelnde Ärzte führen dagegen nur selten zum Erfolg. Das zeigt auch ein Urteil des Bundesgerichts vom 6. Mai 2022, das vor wenigen Wochen veröffentlicht worden ist. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde: Eine 1984 geborene Frau konsultierte im […]
Dass sich Patienten von ihren Ärzten ungenügend aufgeklärt oder falsch behandelt fühlen, kommt oft vor. Klagen gegen behandelnde Ärzte führen dagegen nur selten zum Erfolg. Das zeigt auch ein Urteil des Bundesgerichts vom 6. Mai 2022, das vor wenigen Wochen veröffentlicht worden ist. Dem Urteil lag folgender Sachverhalt zugrunde:
Eine 1984 geborene Frau konsultierte im Dezember 2002 (im Alter von 18 Jahren) ihre Hausärztin, weil sie unter Akne litt. Die Hausärztin vermerkte in der Patientenakte, die Frau habe seit einigen Monaten Akne auf Stirn und Rücken, teilweise mit Narben, und sie verordnete das Medikament Roaccutan, wobei sie festhielt, dass die Patientin ein Hormonimplantat zur Empfängnisverhütung habe.
Roaccutan® resp. das Generikum Isotretinoin-mepha®, dessen Wirkstoff Isotretinoin ist, dient der Behandlung einer schweren Form von Akne oder einer Akne mit Narbenbildung im Frühstadium. Ziel ist es, die Entstehung von unschönen und dauerhaften Narben zu verhindern. Isotretinoin ist für das ungeborene Kind allerdings giftig und kann zu schweren Missbildungen führen. Eine Schwangerschaft ist während der Einnahme von Isotretinoin sowie in den ersten vier Wochen nach Absetzen des Medikaments deshalb verboten, worauf sowohl auf den Packungen von Roaccutan und dem Generikum als auch auf den Packungsbeilagen deutlich hingewiesen wird. In der Fachinformation, die im Arzneimittelkompendium der Schweiz veröffentlicht wurde (im sog. Verschreibungsprotokoll), heisst es, das Medikament sei bei Frauen im gebärfähigen Alter kontraindiziert, ausser wenn speziell genannte Bedingungen erfüllt sind wie beispielsweise ein Schwangerschaftstest und die Verordnung einer Schwangerschaftsverhütung.
Am 2. September 2005 suchte die Patientin ihre Hausärztin erneut auf, weil ihre Akne wieder aufgetreten war. Zum damaligen Zeitpunkt war sie sexuell, wobei unklar ist, ob sie der Ärztin davon berichtete oder nicht. Bis zum 15. Juni 2006 besorgte sich die Patientin in der Apotheke mehrmals Roaccutan-Packungen. In der gleichen Zeit – vom September 2005 bis Juni 2006 – wurde sie sechs Mal von der Hausärztin untersucht. Die Roaccutan-Behandlung dauerte etwa bis am 20. September 2006.
Am 9. oder 10. Oktober 2006 machte die junge Frau einen Schwangerschaftstest, der positiv ausfiel, worauf sie am 26. Oktober 2006 ihre Gynäkologin konsultierte. Die Schwangerschaft wurde im Ultraschall auf 8 Wochen und 4 Tage geschätzt. Dass sie mit Roaccutan behandelt worden war, gab die Frau der Gynäkologin gegenüber nicht an. Sie wurde bis zum 3. Mai 2007 von der Gynäkologin betreut. Am 15. Juni 2007 brachte sie ihren Sohn zur Welt. Er litt unter anderem unter Missbildungen, einer allgemeinen Entwicklungsverzögerung und einer Fehlbildung des zentralen Nervensystems. Die Mutter erkrankte an einer chronischen Depression.
Am 13. Juni 2016 reichten die Mutter ihr Kind beim erstinstanzlichen Gericht in Genf eine Klage gegen die Hausärztin und die Gynäkologin ein. Sie beantragten, die beiden Beklagten seien zur Zahlung einer Genugtuung an die Mutter von Fr. 50’000.00 und an das Kind von Fr. 100’000.00 zuzüglich Zinsen zu verpflichten. Sie machen geltend, dass die Ärztinnen die Mutter nicht korrekt über die Risiken des Medikaments im Falle einer Schwangerschaft aufgeklärt und zudem gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstossen hatten. Die Klage gegen die Gynäkologin zogen sie zufolge eines Vergleichs wieder zurück.
Am 9. Oktober 2017 ordnete das erstinstanzliche Gericht ein medizinisches Gutachten an. Dieses wurde am 25. März 2019 von einem Facharzt für Innere Medizin und einem Dermatologen erstattet. Mit Urteil vom 21. April 2020 wies das Gericht die Klagen ab. Zur Begründung führte es aus, die Hausärztin habe ihre Aufklärungspflicht nicht verletzt: Die Frage der Empfängnisverhütung sei bei den Konsultationen in den Jahren 2002 und 2005 besprochen worden. Daraus könne geschlossen werden, dass die Ärztin die Patientin über die Risiken der Einnahme des Medikaments im Falle einer Schwangerschaft aufgeklärt habe, sei es doch nicht ersichtlich, warum das Thema der Verhütung im Rahmen einer Akne-Behandlung sonst hätte angesprochen werden sollen. Angesichts der Gefährlichkeit des Medikaments sei es unwahrscheinlich, dass die teratogene Wirkung nicht thematisiert worden sei, während andere, weniger schwerwiegende Nebenwirkungen besprochen worden seien.
Die Hausärztin habe daneben auch nicht gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstossen, als sie der Patientin das Medikament verschrieben habe. Laut dem Gutachten sei die Behandlung im Hinblick auf den Gesundheitszustand der Patientin notwendig gewesen. Zwar habe die Hausärztin keinen Schwangerschaftstest durchgeführt und keine Verhütung angeordnet. Die Angaben der Patientin und das Vertrauensverhältnis zwischen der Ärztin und ihrer Patientin vermöge dies jedoch zu erklären.
Darüber hinaus fehle ohnehin der Kausalzusammenhang zwischen einer allfälligen Sorgfaltspflichtverletzung der Ärztin und der Schädigung des Kindes: Die Patientin habe durch den Kontakt mit ihrem Apotheker beim Kauf der Medikamente und durch die Angaben auf der Packungsbeilage Kenntnis von den Risiken der Behandlung im Falle einer Schwangerschaft erlangt. Abgesehen davon habe sie ihren Ärzten wissentlich wichtige Informationen vorenthalten, als sie schwanger geworden sei, so dass ihr Verhalten die Ursache für die Behinderung ihres Sohnes gewesen sei.
Mit Urteil vom 2. Februar 2021 wies der Gerichtshof des Kantons Genf (zweite Instanz) die von den Klägern erhobene Berufung ab, wobei er ähnlich argumentierte wie die erste Instanz.
Deshalb gelangten die Kläger ans Bundesgericht. Dieses stellte zuerst fest, dass sich die Haftung der Hausärztin gegenüber der Mutter und Patientin nach den Regeln des Auftrags (Art. 394 ff. OR) und die Haftung gegenüber dem Sohn nach den Regeln der unerlaubten Handlung im Sinne von Art. 41 OR richtet (was vorliegend aber nur eine untergeordnete Rolle spielt, weil die Haftungsvoraussetzungen vergleichbar sind). Die Klägerin und der Kläger würden der Ärztin zwei Pflichtverletzungen vorwerfen: Sie habe ihre Aufklärungspflicht verletzt, als sie Roaccutan verschrieben habe, und sie habe die Regeln der ärztlichen Kunst verletzt, als sie das Medikament verschrieben habe, obwohl nicht alle Bedingungen des Verschreibungsprotokolls erfüllt gewesen seien: Die Patientin habe nicht an einer schweren Form von Akne gelitten und die Ärztin habe weder einen Schwangerschaftstest noch eine empfängnisverhütende Behandlung angeordnet.
Das Bundesgericht hat sich zuerst zum Vorwurf der Verletzung der Aufklärungspflicht geäussert: Die Ärztin sei verpflichtet gewesen, ihre Patientin über die Risiken der Einnahme von Roaccutan bzw. von dessen Generikum im Falle einer Schwangerschaft zu informieren. Das kantonale Gericht habe festgestellt, dass die Ärztin dies getan hatte, was das Bundesgericht als nicht willkürlich bezeichnete. Konkret durfte das kantonale Gericht – so das Bundesgericht – aufgrund von Notizen in der Krankengeschichte über verwendete Verhütungsmittel darauf schliessen, dass Ärztin und Patientin die Themen Schwangerschaft und Verhütungsmittel besprochen hatten. Das Bundesgericht hat somit den Vorwurf der mangelhaften Aufklärung verneint.
Sodann hat das Bundesgericht geprüft, ob die Ärztin mit der Verschreibung von Roaccutan oder seinem Generikum gegen die Regeln der ärztlichen Kunst verstiess. Die Kläger argumentierten hier, dass sich die Ärztin nicht an die Regeln des Verschreibungsprotokolls im Arzneimittelkompendium der Schweiz gehalten habe, wobei diese Regeln – entgegen den Behauptungen des kantonalen Gerichts – mit den Regeln der ärztlichen Kunst gleichzusetzen seien. Das Bundesgericht hat dazu ausgeführt, dass das kantonale Gericht in Bezug auf die Frage, welche Regeln der ärztlichen Kunst zu respektieren gewesen seien, auf das eingeholte Gutachten abgestellt habe. Mit Verweis auf das Verschreibungsprotokoll im Arzneimittelkompendium hätten die Gutachter festgestellt, dass nur eine schwere Form der Akne die Verschreibung von Roaccutan an eine Frau im gebärfähigen Alter rechtfertige. Sie hätten die mittelschwere Akne der Patientin aber als solche eingestuft, da sie Narben hinterlassen hatte, und hätten die Behandlungsdauer und die verschriebene Dosierung als dem Zustand der Patientin entsprechend und angemessen beurteilt. Zwar hätten die Gutachter die von der Ärztin geführte Krankenakte als lückenhaft bezeichnet und auch darauf hingewiesen, dass vor Beginn der Behandlung kein Schwangerschaftstest durchgeführt worden sei. Die Gutachter seien jedoch der Ansicht gewesen, dass ein Schwangerschaftstest entbehrlich gewesen sei, da das Fehlen einer sexuellen Beziehung, wie es die Patientin zu Beginn der Behandlung angegeben hatte, dieses Versäumnis rechtfertigen könne. Auch im versäumten Verschreiben eines Verhütungsmittels hätten die Gutachter keinen Verstoss gegen die Regeln der Kunst erblickt. Dass die Sachverständigen dem Verschreibungsprotokoll im Arzneimittelkompendium nicht eine verbindliche Bedeutung beigemessen hätten, mache das Gutachten – so das Bundesgericht – nicht mangelhaft und beweisrechtlich unverwertbar. Zwar stelle die Fachinformation im Arzneimittelkompendium oftmals den Behandlungsstandard dar. Die Fachinformationen könnten aber nicht als Regeln der ärztlichen Kunst angesehen werden, die ein Arzt in allen Fällen, in denen er ein Arzneimittel verschreibe, zu befolgen habe. Denn damit würde man dem Arzt die Freiheit nehmen, die für seinen Patienten angemessene Behandlung zu bestimmen, die unbedingt erforderlich sei. Dass sich die Gerichtsgutachter nicht blindlings auf diese Fachinformation verlassen hätten, sei daher nicht stossend. Das kantonale Gericht habe somit auf das Gutachten abstellen dürfen.
Weil die Ärztin gemäss den Gutachtern keine Sorgfaltspflichtverletzung beging, hat das Bundesgericht die Beschwerde abgewiesen, wobei es der Mutter zum Abschluss ein Eigenverschulden vorgeworfen hat: Die Gutachter hätten zwar festgestellt, dass die Ärztin das Medikament „extrem leichtfertig“ verschrieben habe, dennoch habe die Ärztin damit nicht die Regeln der Kunst verletzt. Nachdem die Patientin über die teratogenen Risiken der Einnahme des Medikaments informiert worden sei, habe es in ihrer Verantwortung gelegen, das Verhütungsmittel zu nehmen, das sie nach eigenen Angaben zu Beginn eingenommen hatte. Die Ärztin habe die regelmäßige Einnahme dieses Verhütungsmittels nicht überwachen können und keinen Grund gehabt, den anfänglichen Angaben ihrer Patientin (wonach sie verhüte) zu misstrauen. Ausserdem hätte die Patientin die Warnhinweise auf den Medikamentenschachteln und auf den Beipackzetteln nicht übersehen dürfen, wenn nicht schon der Apotheker sie auf die Risiken aufmerksam gemacht hatte. Sie könne deshalb nicht behaupten, das Medikament eingenommen zu haben, ohne sich über dessen Risiken bei einer Schwangerschaft bewusst gewesen zu sein.
Das Urteil zeigt einmal mehr, wie hoch die Hürden für eine erfolgreiche Haftungsklage gegen einen behandelnden Arzt sind. Die gerichtlich bestellten Gutachter sahen zwar Fehler bei der Ärztin, werteten diese aber nicht als Verstoss gegen die Regeln der ärztlichen Kunst, zumal auch die Patientin nicht einwandfrei handelte. Bei der Lektüre des französischsprachigen Urteils entsteht der Eindruck, das Bundesgericht hebe das Selbstverschulden der Klägerin bewusst hervor. In seinen Erwägungen schwingt ein gewisser Unmut über die Klage mit. Dies äussert sich zum einen darin, dass das Bundesgericht mit scharfen Worten darauf hinweist, es könne seitens der Mutter nicht angehen, die Verantwortung auf die Hausärztin abzuschieben. Zum anderen hat das Bundesgericht am Schluss seiner Erwägungen die Beschwerde als «von Vornherein aussichtslos» bezeichnet und damit den Klägern die unentgeltliche Rechtspflege verweigert (weil mangelnde Aussichtslosigkeit eine Voraussetzung für die unentgeltliche Rechtspflege ist), weshalb sie nun die Kosten ihres Anwalts selber bezahlen müssen. Dieses oft beobachtete, pönalisierende Vorgehen des Bundesgerichts ist umso stossender, wenn man bedenkt, dass das Gericht mehr als sechs Monate brauchte, um sein (am 6. Mai 2022 gefälltes) Urteil zu begründen und die Begründung sehr ausführlich und umfassend ausgefallen ist, wogegen man doch erwarten könnte, dass für einen von Vornherein aussichtslosen Entscheid eine Urteilsbegründung schnell verfasst und kurz gehalten werden könnte.
Urteil BGer 4A_160/2021 vom 6. Mai 2022
Das Spital A. gewährt seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit bis zu einem Jahreshaushaltseinkommen von Fr. 146’000.00 netto eine anteilsmässige finanzielle Beteiligung an den Kinderbetreuungskosten. Der auf dieser Grundlage ausgerichtete Beitrag für eine Kindertagesstätte ist einkommensabhängig und umgekehrt proportional (je nach Einkommenshöhe zwischen 60 und 40 %, Urteil E. 6.2) zum Einkommen. Das Bundesgericht hatte […]
Das Spital A. gewährt seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit bis zu einem Jahreshaushaltseinkommen von Fr. 146’000.00 netto eine anteilsmässige finanzielle Beteiligung an den Kinderbetreuungskosten. Der auf dieser Grundlage ausgerichtete Beitrag für eine Kindertagesstätte ist einkommensabhängig und umgekehrt proportional (je nach Einkommenshöhe zwischen 60 und 40 %, Urteil E. 6.2) zum Einkommen. Das Bundesgericht hatte in einem kürzlich erschienenen, zur Publikation vorgesehenen Urteil darüber zu entscheiden, ob es sich bei diesen Beiträgen des Arbeitgebers als massgebender Lohn i.S. des AHVG handelt und darauf AHV-Beiträge zu entrichten sind oder nicht.
Als massgebender, AHV-pflichtiger Lohn gilt nach Art. 5 Abs. 2 AHVG nicht nur unmittelbares Entgelt für geleistete Arbeit, sondern jede Entschädigung oder Zuwendung, welche sonstwie aus dem Arbeitsverhältnis bezogen oder in diesem wirtschaftlich hinreichend begründet wird. Es kann aber – bei Vorliegen einer besonderen Rechtsgrundlage – nach Art. 5 Abs. 4 i.V.m. Art. 6 ff. AHVV eine Beitragsfreiheit bestehen. Art. 6 Abs. 2 lit. f AHVV nimmt in diesem Sinne «Familienzulagen, die als Kinder-, Ausbildungs-, Haushalts-, Heirats- und Geburtszulagen im orts- und branchenüblichen Rahmen gewährt werden» vom AHV-pflichtigen Erwerbseinkommen aus.
Die kantonale Vorinstanz hat diesbezüglich erwogen, dass diese Beiträge im Grunde dem gleichen Zweck wie die (beitragsfreien) Familien- und Haushaltszulagen dienen, und deshalb von der AHV-Beitragspflicht ausgenommen sind. Hiergegen führte das Bundesamt für Sozialversicherung Beschwerde ans Bundesgericht. Das Bundesgericht hatte folglich zu prüfen, ob die durch das Spital A. gewährten Beiträge für die Kinderbetreuung unter diesen Begriff der beitragsbefreiten «Familienzulage» fallen oder nicht.
Es erwog hierzu zunächst, dass gemäss Rz. 2166 der Wegleitung über den massgebenden Lohn in der AHV, IV und EO (WML) Haushaltszulagen i.S.v. Familienzulagen „feste, von der Höhe des Lohnes unabhängige Leistungen darstellen, welche für alle anspruchsberechtigten Arbeitnehmenden eines Betriebes gleich hoch sein müssen, um von der AHV-Beitragspflicht ausgenommen zu sein“. Das Bundesgericht nahm weiter auch eine Auslegung des Bundesgesetzes über die Familienzulagen (FamZG) vor. Dieses definiert als Familienzulagen «einmalige oder periodische Geldleistungen, die ausgerichtet werden, um die finanzielle Belastung durch ein oder mehrere Kinder teilweise auszugleichen» (Art. 2 FamZG). Das Bundesgericht kam auch in der Auslegung des FamZG zum Schluss, dass eine „Familienzulage“ zusammenfassend dadurch ausgezeichnet wird, dass sie unabhängig vom finanziellen Bedarf ausgerichtet wird.
Dies war bei der vorliegend zu prüfenden Beteiligung des Spitals A. an den Kinderbetreuungskosten gerade nicht der Fall. Es wurde nach dem elterlichen Einkommen differenziert und sie kommt nicht allen Mitarbeitenden in gleicher Höhe zu. Es wurde weiter im Reglement festgelegt, dass der Arbeitgeberbeitrag nur bis zum Eintritt des Kindes in die Primarschule gewährt wird und an das Arbeitsverhältnis gekoppelt ist. Es musste ebenfalls die betriebseigene oder eine angeschlossene Kindertagesstätte berücksichtigt werden, und eine über das Arbeitspensum hinausgehende Betreuung war zum Vorherein ausgeschlossen. Es konnte somit auch bei der Unterschreitung der Einkommensgrenzen nicht jeder Mitarbeiter/jede Mitarbeiterin von diesem Beitrag profitieren. Die Verknüpfung mit dem Grad der Erwerbstätigkeit wollte der Gesetzgeber mit dem Erlass des FamZG gerade beheben.
Das Bundesgericht kam deshalb zum Schluss, dass es sich nicht um eine von der Beitragspflicht befreite Familienzulage handelt, und bestätigte den Einspracheentscheid der Ausgleichskasse, welcher die Beiträge an die Kinderbetreuung zum massgebenden Lohn zählte und sie der Beitragspflicht unterstellte.
Urteil BGer 9C_466/2021 vom 17. Oktober 2022 (zur Publikation vorgesehen)