Unrechtmässig bezogene Leistungen: Versicherungen müssen rasch abklären

by Markus Steudler

Hat eine Versicherung zu Unrecht Leistungen bezahlt, muss sie rasche Abklärungen tätigen, sobald sie davon erfährt. Das Bundesgericht hat sich erstmals dazu geäussert, wann die Verwirkungsfrist für den Rückforderungsanspruch zu laufen beginnt.

Im Juni 2006 wurde ein 41-jähriger in der Schweiz als Küchenhilfe arbeitender Mann getötet. Die Unfallversicherung seines Arbeitgebers, die Schweizerische Mobiliar, sprach seiner damals im Ausland lebenden Ehefrau eine Witwenrente und seinen fünf Kindern eine Waisenrente zu. Im Jahr 2010 reisten die Hinterbliebenen in die Schweiz ein und stellten ein Asylgesuch, worauf die Ausgleichskasse Zug ihnen per 1. Mai 2010 Renten der Alters- und Hinterlassenenversicherung gewährte. Die Schweizerische Mobiliar, die ihre Renten nun hätte kürzen können, erhielt davon offenbar keine Kenntnis.

Am 8. Juli 2018 gelangte die Beiständin einer Tochter des Verstorbenen an die Schweizerische Mobiliar und teilte ihr mit, dass die AHV-Hinterlassenen-Rente der (über 18 Jahre alten) Tochter eingestellt worden sei, weil sie ihre Lehre abgebrochen hatte. Die Beiständin tat dies, um herauszufinden, ob auch die von der Schweizerischen Mobiliar ausgerichtete Waisenrente eingestellt werde. Bei dieser Gelegenheit erfuhr die Schweizerische Mobiliar erstmals von der Auszahlung der AHV-Hinterlassenen-Renten. Am darauffolgenden Tag, dem 9. Juli 2018, antwortete sie der Beiständin, die Rente der Unfallversicherung sei infolge des Lehrabbruchs ebenfalls eingestellt worden.

Etwas mehr als 7 Monate später, am 12. Februar 2019, erkundigte sich die Schweizerische Mobiliar bei der Ausgleichskasse Zug nach den AHV-Hinterlassenen-Renten. Aufgrund der erhaltenen Informationen berechnete sie ihre UVG-Komplementärrenten neu und forderte mit Verfügung vom 16. August 2019 wegen bislang unterbliebener Berücksichtigung der AHV-Hinterlassenenrenten vom Sozialamt Zug Fr. 117’326.65 zurück. Das Sozialamt Zug verweigerte jedoch die Zahlung und erhob Einsprache. Im März 2020 wies die Schweizerische Mobiliar die Einsprache ab, wogegen das Sozialamt Zug Beschwerde erhob. Das Verwaltungsgericht des Kantons Zug hiess diese Beschwerde im März 2022 gut und hob den Einspracheentscheid der Schweizerischen Mobiliar vom März 2020 auf. Dagegen gelangte die Schweizerische Mobiliar ans Bundesgericht.

Diese Beschwerde hat das Bundesgericht in seinem Urteil vom 16. November 2022 nun abgewiesen. Gemäss Art. 25 Abs. 1 erster Satz ATSG müssen unrechtmässig bezogene Leistungen (von Sozialversicherungen) zurückzuerstatten werden. Bis zum 31. Dezember 2020 sah das Gesetz vor, dass der Rückforderungsanspruch des betroffenen Versicherers mit Ablauf eines Jahres erlischt nachdem er davon Kenntnis erhalten hat (seit dem 1. Januar 2021 sind es neu drei Jahre; sog. relative Verwirkungsfrist). Spätestens erlischt der Rückforderungsanspruch mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Auszahlung der Leistung (absolute Verwirkungsfrist). Verpasst es der Versicherer, innerhalb dieser Fristen eine Rückforderungsverfügung (Art. 3 Abs. 1 ATSV) zu erlassen, verwirkt sein Anspruch.

Das Bundesgericht hat die Frage beurteilen müssen, ob der Rückforderungsanspruch der Schweizerischen Mobiliar im Zeitpunkt ihrer Rückforderungsverfügung vom August 2019 verwirkt war. Es hat dafür insbesondere geprüft, wann die einjährige relative Verwirkungsfrist zu laufen begann. Der Rückforderungsanspruch als solcher ist unbestritten gewesen.

Die Vorinstanz, das Verwaltungsgericht des Kantons Zug, stellte für die Berechnung des Fristenlaufs auf die E-Mail der Beiständin der Tochter des Verstorbenen vom 8. Juli 2018 an die Schweizerische Mobiliar ab. Mit dieser E-Mail habe die Mobiliar von der Auszahlung der Hinterlassenenrente der AHV Kenntnis erhalten. Erst am 12. Februar 2019 habe sie sich bei der Ausgleichskasse Zug nach den Verfügungen erkundigt. Bei grosszügiger Hinzurechnung einer Abklärungsfrist von drei Wochen, innert der die Schweizerische Mobiliar den Rückforderungsanspruch hätte genauer prüfen müssen, habe die relative einjährige Verwirkungsfrist am 1. August 2018 zu laufen begonnen und am 31. Juli 2019 geendet. Da die Schweizerische Mobiliar die Rückerstattung in der dafür vorgesehenen Form (einer Verfügung) erst am 16. August 2019 beschlossen habe, sei die Frist nicht eingehalten worden und ihr Anspruch verwirkt.

Das Bundesgericht hat auf seine jüngste Rechtsprechung zum Beginn der Verwirkungsfrist und zur Dauer der Abklärungsfrist verwiesen, gemäss welcher die einjährige relative Verwirkungsfrist im Zeitpunkt der zumutbaren Kenntnisnahme einsetzen könne. Die Verwaltung solle zwar eine angemessene Zeit für nähere Abklärungen (betreffend Grundsatz, Ausmass oder Adressat) erhalten, wenn und soweit sie über hinreichende, aber noch unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch verfüge. Unterlasse sie dies, so sei der Beginn der relativen (einjährigen) Verwirkungsfrist auf den Zeitpunkt festzusetzen, in welchem die rückfordernde Behörde ihre unvollständige Kenntnis mit dem erforderlichen und zumutbaren Einsatz derart zu ergänzen im Stande gewesen sei, dass der Rückforderungsanspruch habe geltend gemacht werden können. Ergebe sich die Unrechtmässigkeit der Leistung direkt aus den Akten, so beginne die einjährige Frist sofort, ohne dass Zeit für eine weitere Abklärung zugestanden würde (BGE 148 V 217 E. 5, insb. E. 5.2.2 mit Hinweisen).

Indem die Schweizerische Mobiliar mit E-Mail vom 8. Juli 2018 von der ausgerichteten Hinterlassenenrente der AHV erfahren und der Beiständin am Folgetag eine Antwort gegeben hatte, verfügte sie am 9. Juli 2018 über hinreichende Hinweise für einen möglichen Rückforderungsanspruch. Dies gelte in Bezug auf alle Hinterlassenen, da die Ausrichtung von Hinterlassenenrenten der AHV an die weiteren Familienmitglieder bei einer solchen Ausgangslage naheliegend und darum näher zu prüfen sei. Weil der Hinweis am 8. Juli 2018 noch unvollständig gewesen sei, habe die Vorinstanz der Schweizerischen Mobiliar zurecht drei Wochen für nähere Abklärungen zugebilligt. Eine solche Dauer sei in der gegebenen Konstellation ausreichend, um die zur Neuberechnung der Komplementärrente nötigen Verfügungen einzuholen und allenfalls weitere Abklärungen hierzu zu treffen. Die Verwirkungsfrist habe somit am 1. August 2018 zu laufen begonnen und am 31. Juli 2019 geendet. Die Rückforderungsverfügung der Schweizerischen Mobiliar erging am 16. August 2019, als ihr Rückforderungsanspruch bereits verjährt gewesen sei. Die Beschwerde der Schweizerischen Mobiliar sei folglich abzuweisen.

 

Würdigung:

Das Bundesgericht hat in seinem Entscheid erstmals eine Frist (drei Wochen) genannt, während welcher ein Versicherungsträger (welcher hinreichende, aber unvollständige Hinweise auf einen möglichen Rückforderungsanspruch hat) seinen Anspruch abklären muss. In seinem Leitentscheid BGE 148 V 217 (E. 5.2.2) hatte das Gericht noch davon abgesehen, die zuzugestehende Dauer für Abklärungen allgemein-abstrakt festzulegen, und bloss erklärt, sie sei den konkreten Umständen des Einzelfalls angemessen zu definieren. Das Urteil präzisiert somit die bisherige Rechtsprechung.

Der Entscheid ist auch bedeutend für versicherte Personen, die Leistungen zu Unrecht bezogen haben, was in der Praxis immer wieder vorkommt (auch wenn dies längst nicht immer die versicherte Person selbst zu verantworten hat). Die zu Unrecht leistende Versicherung ist dazu verpflichtet, Hinweisen auf solche unrechtmässigen Auszahlungen zügig abzuklären. Das Problem der drohenden Verwirkung des Rückforderungsanspruchs hat der Gesetzgeber seit Januar 2021 aber insofern entschärft, als neu eine relative Verwirkungsfrist (ab Kenntnis des Rückforderungsanspruchs) von drei Jahren – statt wie zuvor von einem Jahr – gilt. Nach neuem Recht wäre der Rückforderungsanspruch der Schweizerischen Mobiliar denn auch nicht verwirkt gewesen.

Zu erwähnen bleibt, dass das Bundesgericht in seinem Urteil an einer Stelle fälschlicherweise von einem „Verjähren“ des Rückforderungsanspruchs schreibt. Das steht im Widerspruch zur eigenen konstanten Rechtsprechung, wonach es sich bei den Fristen von Art. 25 Abs. 2 ATSG um Verwirkungsfristen handelt, und dürfte sich deshalb um einen Verschrieb handeln.

 

Urteil BGer vom 16. November 2022, 8C_235/2022

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