Kapitalisierungszinsfuss bleibt bei 3,5 %
Kapitalisierung von künftigem Erwerbsausfall im Haftpflichtrecht: das Bundesgericht meisselt den Zinsfuss von 3,5 % in Stein.
Wenn eine Haftpflichtversicherung einem Geschädigten, beispielsweise einem Verkehrsopfer, den zukünftigen Schaden, insbesondere den Lohnausfall, ersetzen muss, hat der Geschädigte grundsätzlich die Wahl zwischen einer Rente und einem Kapital (BGE 125 III 312 E. 6c). Die Rente hat den Vorteil, dass sie den Lohnausfall dann deckt, wenn er anfällt, und wenn der Geschädigte länger lebt als der Durchschnitt, erhält er mehr. Demgegenüber bindet die Rente den Geschädigten lebenslang an den Haftpflichtversicherer, und der Geschädigte trägt das Insolvenzrisiko des Versicherers. Eine Kapitalabfindung verschafft dem Geschädigten dagegen eine schnell finanzielle Unabhängigkeit, sie erfordert aber auch eine umsichtige Geldanlage, damit das Geld nicht verpufft.
Wenn die Haftpflichtversicherung den Ersatz für zukünftigen Schaden in Form einer abschliessenden Kapitalzahlung leistet, wird von diesem Betrag ein jährlicher Zins von 3,5 % abgezogen als Ausgleich dafür, dass der Geschädigte das Kapital verzinslich anlegen kann. Auf diese Weise verringern sich die Schadenersatzzahlungen von Unfallopfern um erhebliche Summen. Das Bundesgericht begründet diese Diskontierung wie folgt: „Mit der Ausrichtung von kapitalisiertem Schadenersatz erhält der Geschädigte einen Betrag, den er ohne den Schadenfall erst in Zukunft nach und nach verdient hätte. Er kann diesen Betrag ertragbringend anlegen und erlangt daraus einen Vorteil. Dass bei der Kapitalisierung eine Abzinsung eingerechnet wird, erscheint insofern als eine besondere Form des Vorteilsausgleichs“ (BGE 125 III 312 E. 5a).
Seit 1946 wendet das Bundesgericht in konstanter Praxis einen Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% an. Im letzten ausführlicheren Urteil des Bundesgerichts zu diesem Thema vom 11. Mai 1999 (BGE 125 III 312) führte das oberste Gericht unter anderem aus, es sei sich darüber bewusst, dass die Kapitalisierung von künftigem Erwerbsausfall auf Hypothesen über Entwicklungen beruhe, die in der Zukunft liegen würden, wie beispielsweise die künftige Teuerung oder die künftigen Kapitalerträge. Geschädigte müssten Anlagerisiken aber in Kauf nehmen, zumal dem mit Aktienanlagen verbundenen Risiko mittels einer Diversifikation entgegengetreten werden könne. Ein realer Ertrag von 3,5% liege im Rahmen dessen, was sich mit einem angemessen gemischten Wertschriften-Portefeuille oder mit Anteilen an einem auf eine vorsichtige Anlagestrategie ausgerichteten Anlagefonds erzielen lasse, woran sich in absehbarer Zukunft nichts ändern werde (BGE 125 III 312).
In der Lehre wird der Kapitalisierungszinsfuss von 3,5% seit längerer Zeit dennoch immer wieder als zu hoch kritisiert. Und die kritischen Stimmen haben sich in der zurückliegenden Tiefzinsperiode gemehrt, in welcher es Geschädigten kaum möglich gewesen sein dürfte, einen durchschnittlichen Jahreszins von 3.5% zu erzielen, wodurch ihre Entschädigung geschrumpft sein dürfte.
In diese Zeit fiel das von einer Haftpflichtversicherung beim Bundesgericht angefochtene Urteil des Waadtländer Berufungsgerichts. Letzteres hatte am 19. August 2020 und am 1. Februar 2022 für die Bestimmung des künftigen Verdienstausfalls eines Verkehrsopfers ein Kapitalisierungssatz von 2 % und nicht von 3,5 % angewendet. Der 1993 geborene Mann war am 21. Januar 2002 auf einem Fussgängerstreifen von einem Auto angefahren worden und hatte ein Schädel-Hirn-Trauma mit Schädelfrakturen erlitten.
Die Haftpflichtversicherung zog dem Fall ans Bundesgericht weiter und hat nun obsiegt. Das Bundesgericht führt in seinem in französischer Sprache verfassten Urteil aus, der Geschädigte habe nicht ausreichend dargelegt, weshalb wichtige Gründe vorliegen sollen, welche eine Änderung der konstanten Rechtsprechung rechtfertigen würden. Insbesondere habe der Geschädigte nicht dargelegt, dass es sich bei der Anpassung des Zinssatzes auf 2 % um eine dauerhafte, tendenziell langfristige Veränderung handle; bloss „dauerhaft negative Zinssätze“ zu erwähnen, reiche nicht aus. Und die kantonalen Richter seien aufgrund der unzureichenden Behauptungen des Geschädigten nicht dazu befugt gewesen, einen Satz von 2 % festzulegen. Zudem hätten sie die Änderung des bisherigen Kapitalisierungssatzes von 3,5 % auch nicht ausreichend begründet.
Damit sind wohl die letzten Hoffnungen von Geschädigten-Vertretern verflogen, die sich im Zuge der vergangenen Tief- und Negativzinsperiode eine Änderung der seit Jahrzehnten als ungerecht empfundenen Regelung erhofft hatten. Der Kapitalisierungszinsfuss von 3,5 % dürfte in Stein gemeisselt sein.
Urteil des Bundesgerichts 4A_116/2022 vom 13. September 2022
Schreibe einen Kommentar