BVG-Kinderrentenleistungen: «in Ausbildung» trotz Einkommen von über Fr. 2’390.00
Das Bundesgericht hat anerkannt, dass sich ein über 18-jähriges Kind noch «in Ausbildung» befindet, obwohl es gleichzeitig ein monatliches Einkommen erzielt, welches über der für Ansprüche aus der 1. Säule geltenden Maximallimite liegt, womit ein Rentenanspruch gegenüber der Pensionskasse besteht.
Geht es im Bereich der beruflichen Vorsorge (2. Säule) darum, eine Frage zu lösen, auf welche weder das Gesetz (BVG) noch das Vorsorgereglement der betroffenen Pensionskasse Antwort geben, so greift das Bundesgericht immer wieder auf Vorgaben aus der AHV/IV (1. Säule) zurück, mit welchen dann die Lücken gefüllt werden sollen. Begründet wird dies mit der gleichen Zielrichtung von 1. und 2. Säule unseres Vorsorgesystems.
Damit für ein über 18-jähriges Kind einer verstorbenen oder IV- bzw. AHV-berenteten Person Rentenanspruch gegenüber der Pensionskasse besteht (Waisen- oder Kinderrente), muss es sich in Ausbildung befinden, ansonsten wird keine Rente ausbezahlt. Zur Beantwortung der Frage, ob von Ausbildung auszugehen ist, liefert der für die 1. Säule geltende Art. 49bis AHVV dazu verschiedene Anhaltspunkte: In Ausbildung ist ein Kind, wenn es sich auf der Grundlage eines ordnungsgemässen, rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten Bildungsganges systematisch und zeitlich überwiegend entweder auf einen Berufsabschluss vorbereitet oder sich eine Allgemeinausbildung erwirbt, die Grundlage bildet für den Erwerb verschiedener Berufe. Ausbildung ist ebenfalls gegeben, wenn das Kind Brückenangebote wahrnimmt wie Motivationssemester und Vorlehren sowie Au-pair- und Sprachaufenthalte, sofern sie einen Anteil Schulunterricht enthalten. Nicht als in Ausbildung gilt jedoch ein Kind, wenn es ein durchschnittliches monatliches Erwerbseinkommen erzielt, das höher ist als die maximale volle Altersrente der AHV.
Jüngst hatten nun die BundesrichterInnen einen Fall zu beurteilen, in welchem eine volljährige Waise neben dem Fachhochschulstudium in Betriebsökonomie zu 50% arbeitstätig war und dabei nicht unerheblich verdiente, was gemäss kantonalem Gericht dazu führen sollte, dass ein PK-Waisenrentenanspruch nicht mehr gegeben war. Im zur amtlichen Publikation bestimmten Urteil vom 20. Juli 2022 nahm dann das Bundesgericht – wie erwartbar – zunächst auf Art. 49bis AHVV Bezug und hielt fest, dass für den Bedeutungsgehalt des Ausbildungsbegriffs die dortige Definition massgebend ist. Neben diesem qualitativen Gesichtspunkt wandte sich das Gericht sodann dem quantitativen Element zu, d.h. der Frage, ob in der beruflichen Vorsorge dieselbe Einkommenslimite wie in der 1. Säule gilt, wo ab einem Betrag entsprechend einer maximalen AHV-Rente (aktuell Fr. 2’390.00 pro Monat) kein Leistungsanspruch mehr besteht. Und hier wurde die spezifische Zielsetzung der 2. Säule hervorgehoben: Anders als im AHV-/IV-Bereich, wo die Existenzsicherung zu gewährleisten ist, geht es in der beruflichen Vorsorge um den (verfassungsmässig vorgegebenen) Zweck der Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstandards. Nach Bundesgericht hat dies zur Folge, dass die hinsichtlich Deckung des reinen Lebensbedarfs in der 1. Säule eingeführte Einkommenslimite für die Belange der beruflichen Vorsorge nicht gilt. Im vorliegenden Fall bestand also für die je halbzeitig in Ausbildung stehende und erwerbstätige junge Person trotz fehlendem Anspruch auf eine AHV-Waisenrente gegenüber der Pensionskasse ihres verstorbenen Vaters eine Waisenrentenberechtigung. Der guten Ordnung halber hat das Bundesgericht dann abschliessend noch festgehalten, dass rechtsmissbräuchliche Vorgehensweisen natürlich nicht zur Aufrechterhaltung des Leistungsanspruchs führen.
Insgesamt erweist sich die Argumentation des Bundesgerichts ohne Weiteres als nachvollziehbar. In Zeiten der gerade auch in der 2. Säule allgegenwärtigen Leistungssenkungsmassnahmen ist dies für einmal eine positive Nachricht für Versicherte.
Urteil BGer 9C_543/2021 vom 20. Juli 2022 (zur amtl. Publikation vorgesehen)
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