Vorleistungspflicht: Unterschiedliche Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit – IV und ALV lehnen ab. Wer ist leistungspflichtig?

by Anjushka Früh

 

In einem laufenden IV-Verfahren, in dem noch Abklärungen zur Arbeitsfähigkeit vorgenommen werden, besteht unter gewissen Voraussetzungen eine sogenannte Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung. Rechtsprechungsgemäss besteht diese Vorleistungspflicht dann, wenn eine versicherte Person gesundheitlich bedingt in ihrer Leistungsfähigkeit eingeschränkt ist, aber in der Lage ist, eine angepasste Tätigkeit zu einem Pensum von mindestens 20 Prozent anzunehmen. In diesem Fall richtet die Arbeitslosenversicherung die volle Arbeitslosenentschädigung aus. Der Zweck der Vorleistungspflicht liegt darin, für die Zeit, in welcher der Anspruch auf Leistungen einer anderen Versicherung abgeklärt wird und somit noch nicht feststeht (Schwebezustand), Lücken im Erwerbsersatz zu vermeiden. Nach abgeschlossenem IV-Verfahren erfolgt sodann je nach Beurteilung der Arbeitsfähigkeit eine definitive Aufteilung der Leistungspflicht zwischen der Invalidenversicherung und der Arbeitslosenversicherung.

Diese Voraussetzung der angepassten Arbeitsfähigkeit von mindestens 20 % besteht, weil eine Voraussetzung des Leistungsanspruchs gegenüber der Arbeitslosenversicherung die Vermittlungsfähigkeit ist, was auch im Rahmen der Vorleistungspflicht erfüllt sein muss.

Während dem laufenden IV-Verfahren stellen sich aber immer auch Abgrenzungsfragen. Insbesondere die Frage, auf welche Beurteilung der Arbeits(un)fähigkeit abzustellen ist, wenn unterschiedliche Beurteilungen, beispielsweise zwischen den behandelnden Ärzten und einem durch die IV eingeholten gutachterlichen Beurteilung.

Im vorliegenden Fall hatte sich das Bundesgericht mit einem genau solchen Fall auseinanderzusetzen. Die Arbeitslosenversicherung und das Verwaltungsgericht des Kantons Nidwalden stellten sich auf den Standpunkt, dass gestützt auf die Beurteilung des behandelnden Psychiaters eine vollständige Arbeitsunfähigkeit auch für einen Arbeitsversuch bestehe, der Versicherte deshalb objektiv vermittlungsunfähig sei und deshalb die Voraussetzungen zum Bezug von Arbeitslosentaggeldern auch im Rahmen der Vorleistungspflicht nicht gegeben seien.

Demgegenüber machte der Versicherte im Verlauf des noch laufenden IV-Verfahrens, dass er durch die IV mit Vorbescheid als zu mindestens 80 % arbeitsfähig in der angestammten sowie in einer leidensadaptierten Tätigkeit einschätze, und deshalb die gesetzliche Vermutung der Vermittlungsfähigkeit gelte.

Das Bundesgericht musste im vorliegenden Fall feststellen, dass zwar im Verlauf des Verfahrens auf das laufende IV-Verfahren hingewiesen und der Vorbescheid angeblich der Arbeitslosenversicherung eingereicht wurde. Diese Dokumente waren aber nicht in den Verfahrensakten enthalten. Aufgrund des geltenden Untersuchungsgrundsatzes wären die ALV und das kantonale Gericht verpflichtet gewesen, die Akten entsprechend zu ergänzen und sind erst dann in der Lage, unter Berücksichtigung der durch den Versicherten geltend gemachten teilweisen Arbeitsfähigkeit über die Vorleistungspflicht zu entscheiden zu können und beurteilen zu können, ob nunmehr nicht mehr von einer offensichtlichen Vermittlungsunfähigkeit auszugehen wäre. Für diese weiteren Abklärungen hat das Bundesgericht die Angelegenheit an das kantonale Gericht zurückgewiesen.

Das bundesgerichtliche Urteil zeigt beispielhaft auf, welche Auswirkungen unterschiedliche Beurteilungen der Arbeitsfähigkeit auch bei der Frage der Vorleistungspflicht der Arbeitslosenversicherung haben kann, und wie wichtig es ist, dass die Versicherungsträger und die Gerichte ihrer Abklärungspflicht bei entsprechenden Hinweisen hinreichend nachkommen.

BGer 8C_595/2021 vom 17. März 2022

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