Freispruch im Strafverfahren schützt nicht vor zivilrechtlicher Haftung
Das Bundesgericht hat die Haftung einer Isolierfirma bejaht, deren Mitarbeiter auf einer Baustelle eine dünne Sagex-Matte auf ein Loch im Boden gelegt hatte, worauf ein anderer Bauarbeiter auf die Sagex-Matte trat und durch diese hindurch in die Tiefe stürzte. Dabei hat das Bundesgericht das Verhältnis zwischen Straf- und Zivilrecht präzisiert.
Der Unfall hatte sich im Jahr 2004 ereignet. Damals waren sowohl ein Mitarbeiter der nun verurteilten Isolierfirma als auch der geschädigte Heizungsmonteur auf derselben Baustelle tätig, einer Villa im Waadtland, die sich noch im Rohbau befand. Im ersten Stock im Korridor war im Boden eine Fläche ausgespart, wo die Zugangstreppe (vom Erdgeschoss her) installiert werden sollte. Bis am Tag vor dem Unfall war im Korridor um diese offene Fläche herum ein provisorisches Geländer aus Schutzbrettern angebracht, und die Öffnung im Boden für die Treppe war zudem mit Schaltafeln bedeckt. Am Rand der Schaltafeln war ein halbrundes Loch mit einem Durchmesser von rund einem Meter gelassen worden, durch welches die Bauarbeiter mit einer Leiter vom Erdgeschoss in den 1. Stock hinauf klettern konnten.
Am Tag vor dem Unfall bat der Mitarbeiter der Isolierfirma den Maurer, die Geländer-Schutzbretter abzubauen, damit er eine Isolierung anbringen konnte. Nachdem der Maurer dies getan hatte, machte er sich ans Isolieren. Er war allein im Korridor im 1. Stock, wusste aber, dass sich noch andere Handwerker vor Ort befanden. Er legte eine Matte Sagex über die gesamte Länge des Korridors aus und deckte damit auch das halbrunde Loch im Boden zu. Dann machte er sich daran, Klebeband auf der langen Sagex-Matte anzubringen, wobei er am anderen Ende des Korridors begann. Gerade als er mit Kleben begann und gegen die Wand schaute, betrat in seinem Rücken der Heizungsmonteur den Korridor. Er trat an jener Stelle, an der sich versteckt das Loch im Boden befand, auf die Sagex-Matte. Die Sagex-Schicht brach ein und der Heizungsmonteur stürzte fünf Meter in die Tiefe. Dabei zog er sich schwere und bleibende Verletzungen zu.
Ein von der Suva beauftragter Gutachter stellte auf der Baustelle Organisationsmängel fest und liess einen Schutzzaun sowie ein Brett über der Öffnung anbringen. Schon vor dem Unfall hatte der Sachverständige mit der Isolierfirma zu tun gehabt, das heisst, er hatte sie kurze Zeit vorher inspiziert und Verbesserungspotenzial bei der firmeninternen Beurteilung von Risiken und Gefahren auf Baustellen festgestellt.
Gegen den Mitarbeiter der Isolierfirma wurde ein Strafverfahren wegen fahrlässiger Körperverletzung eröffnet. Mit Urteil vom 1. Dezember 2009 wurde der er freigesprochen.
Im Jahr 2015 reichte der geschädigte Heizungsmonteur am Zivilgericht Lausanne gegen die Isolierfirma eine Teilklage auf Bezahlung einer Genugtuung von Fr. 100’000.00 ein. Mit Urteil vom 13. Mai 2020 befand das Zivilgericht, dass es nicht an die Feststellungen des Strafrichters gebunden sei. Es verpflichtete die Isolationsfirma dazu, dem Heizungsmonteur aus Art. 55 OR (Haftung des Geschäftsherrn) eine Genugtuung von Fr. 50’000.00 zu bezahlen. Das Waadtländer Kantonsgericht wies die von der Isolierfirma dagegen erhobene Berufung ab, was nun auch das Bundesgericht getan hat.
In seinem Urteil hat das Bundesgericht die einzelnen Rügen der Isolierfirma geprüft und allesamt verworfen:
Die Isolierfirma rügte als erstes eine willkürliche Sachverhaltsfeststellung durch das kantonale Gericht und – damit verbunden – eine Verletzung von Art. 53 OR («Verhältnis zum Strafrecht»). Das Strafgericht habe den Unfall bereits umfassend untersucht und abschliessend beurteilt gehabt. Von dieser Beurteilung seien die Zivilrichter ohne Grund abgewichen, obwohl das Strafurteil gefällt worden sei als die Erinnerungen der Beteiligten noch frischer gewesen seien.
Wie das Bundesgericht nun ausgeführt hat, waren die Zivilrichter gemäss Art. 53 OR nicht an den Freispruch im Strafverfahren gebunden. Diese Gesetzes-Bestimmung sei zwar nicht ganz klar, es stehe jedoch fest, dass sie nicht die Feststellung des Sachverhalts oder die sich daraus ergebende Widerrechtlichkeit regle, so dass im Zivilprozess darüber zu bestimmen sei, ob der Zivilrichter an den im Strafverfahren festgestellten Sachverhalt gebunden sei oder nicht. Die Zivilprozessordnung enthalte diesbezüglich keine Regel. Deshalb sei der Zivilrichter nicht an den vom Strafrichter festgestellten Sachverhalt gebunden; er entscheide nach eigenem Ermessen frei, ob er den strafrechtlich festgestellten Sachverhalt übernehme oder nicht, und er entscheide auch frei über die Widerrechtlichkeit. Im vorliegenden Fall würden der Straf- und der Zivilrichter insbesondere hinsichtlich der getroffenen Vorsichtsmaßnahmen unterschiedliche Meinungen vertreten. Man könne dem Zivilrichter dabei nicht vorwerfen, Bundesrecht (insbesondere Art. 53 OR) verletzt zu haben, indem er von der strafrichterlichen Beurteilung abgewichen sei und dem Mitarbeiter der Isolierfirma vorgeworfen habe, in einer besonders gefährlichen Situation nicht die notwendigen Schutzmassnahmen getroffen zu haben.
Sodann hat sich das Bundesgericht zu der von der Isolierfirma behaupteten Verletzung von Art. 55 OR («Haftung des Geschäftsherrn») geäussert. Gemäss Art. 55 Abs. 1 OR haftet der Geschäftsherr für den Schaden, den seine Arbeitnehmer oder andere Hilfspersonen in Ausübung ihrer dienstlichen oder geschäftlichen Verrichtungen verursacht haben, sofern er nicht nachweist, dass er alle nach den Umständen gebotene Sorgfalt angewendet hat, um einen Schaden dieser Art zu verhüten, oder dass der Schaden auch bei Anwendung dieser Sorgfalt eingetreten wäre.
Das Bundesgericht hat zunächst die Voraussetzungen für eine Haftung nach Art. 55 OR in Erinnerung gerufen:
- eine unerlaubte Handlung einer Hilfsperson, die in einem Subordinationsverhältnis zu einem Arbeitgeber steht und im Rahmen ihrer Arbeit handelt;
- ein Schaden;
- eine mangelnde Sorgfalt des Arbeitgebers;
- ein Kausalzusammenhang zwischen der unerlaubten Handlung der Hilfsperson bzw. der mangelnden Sorgfalt des Arbeitgebers und dem Schaden
Um sich zu exkulpieren, so das Bundesgericht, müsse der Arbeitgeber beweisen, dass er alle nach den konkreten Umständen gebotene Sorgfalt angewendet habe (cura in eligendo, instruendo et custodiendo) oder dass ein sorgfältiges Verhalten den Eintritt des Schadens nicht verhindert hätte. Die Anforderungen an den Arbeitgeber seien dabei hoch; Entlastungsgründe würden nur unter restriktiven Bedingungen zugelassen. Die erforderliche Sorgfalt stehe in einem angemessenen Verhältnis zur Gefährlichkeit der Arbeit der Hilfsperson. Es dürfe nichts Unmögliches verlangt werden, der Geschäftsherr müsse sich aber an das halten, was im täglichen Geschäftsbetrieb vernünftigerweise verlangt werden könne.
Um die Frage nach der unerlaubten Handlung zu beurteilen, hat das Bundesgericht auf die von der Vorinstanz definierten Sicherheitsnormen verwiesen, beispielsweise Art. 12 Abs. 1 der Bauarbeitenverordnung (BauAV), welche den folgenden Wortlaut hat: «Bei nicht durchbruchsicheren Flächen, Bauteilen und Abdeckungen sind Abschrankungen anzubringen oder andere Massnahmen zu treffen, damit sie nicht versehentlich begangen werden. Nötigenfalls sind sie mit tragfähigen Abdeckungen oder Laufstegen zu überbrücken.» Das Strafgericht – so das Bundesgericht – habe im Unfall eine unglückliche Verkettung von Umständen gesehen und festgestellt, dass der Unfall «innerhalb von einigen Dutzend Sekunden» geschehen sei während das Loch mit der Sagex-Matte bedeckt gewesen sei und der Mitarbeiter der Isolierfirma dem Korridor den Rücken zugewandt hatte. Dagegen habe das Zivilgericht dem Mann vorgeworfen, dass er es in einer ohnehin schon gefährlichen Situation versäumt habe, die notwendigen Sicherheitsmassnahmen zu ergreifen, um die Aussparung zu sichern, womit er einen gefährlichen Zustand geschaffen habe. Insbesondere habe er die anwesenden Bauarbeiter nicht vor der Gefahr gewarnt, und er habe auch nicht um Hilfe gebeten, um die Sagex-Isolierung zu montieren oder die Sagexplatte resp. die Öffnung zu beaufsichtigen. Es sei nicht ersichtlich, weshalb diese Argumentation falsch gewesen sein solle. Im Übrigen sei auch nicht zu beanstanden, dass die kantonalen Richter die Kausalität zwischen der unerlaubten Handlung des Arbeitnehmers der Isolierfirma und dem eingetretenen Schaden bejaht hätten.
Abschliessend hat sich das Bundesgericht zum Sorgfaltsbeweis geäussert, den die Isolierfirma erbracht haben wollte. Das Zivilgericht hatte der Isolierfirma als Arbeitgeberin u.a. mangelnde Sorgfalt bei der Instruktion und Überwachung ihres Mitarbeiters vorgeworfen: insbesondere habe sie ihm keine besonderen Anweisungen für seinen Einsatz gegeben und keine Massnahmen ergriffen, damit er seine Arbeit mit den anderen Bauarbeitern abspreche. Und sie habe auch nicht dafür gesorgt, dass der Angestellte genügend Zeit hatte, um die notwendigen Sicherheitsmaßnahmen zu ergreifen, obwohl der Suva-Experte zuvor auf mögliche Verbesserungen bei der Analyse der Risiken und Gefahren auf kleinen Baustellen sowie bei der Kontrolle und Umsetzung der vorab festgelegten Maßnahmen vor Ort hingewiesen hatte.
Dieser vom kantonalen Gericht übernommen Argumentation hat sich das Bundesgericht angeschlossen. Zwar dürfe von Unternehmen, die Angestellte auf Baustellen entsenden, nicht Unmögliches verlangt werden. Der vorliegende Unfall sei jedoch nicht schicksalhaft gewesen; die Baustelle sei aufgrund des Lochs, das für den Einbau der Treppe vorgesehen gewesen sei, besonders gefährlich gewesen. Von der Arbeitgeberin habe vernünftigerweise erwartet werden können, dass sie sich auf die Baustelle begebe, um die Lage zu beurteilen, die genauen Bedingungen für die Isolierungsarbeiten festzulegen, die Absprache mit den anderen Unternehmen sicherzustellen und vor allem die Vorsichtsmaßnahmen anzuordnen, die während der – wenn auch nur kurzen – Zeit zu treffen gewesen wären, in der das Loch mit einer undurchsichtigen Sagexschicht habe bedeckt werden müssen. Dass für den Angestellten die von ihm geschaffene Gefahr offensichtlich gewesen sei, entbinde die Isolierfirma nicht von der Pflicht, ihn korrekt zu instruieren. Denn die kurze Zeit, während der das Loch habe abgedeckt werden müssen, habe den Angestellten dazu verleiten können, Sicherheitsmassnahmen zu unterlassen; die Arbeitgeberin habe deshalb umso mehr strikte Anweisungen erteilen müssen. Der Vorwurf der Verletzung von Art. 55 OR erweise sich somit als unbegründet.
Das in französischer Sprache verfasste Bundesgerichtsurteil ist klar strukturiert und mit der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung zur Geschäftsherrenhaftung gemäss Art. 55 OR vereinbar. Bemerkenswert am Fall ist vor allem der Umstand, dass die Zivilrichter nicht einfach die Beurteilung des Strafgerichts übernahmen, wie es in der Praxis leider oft geschieht. Es gibt gute Gründe dafür, weshalb Zivilrichter nicht einfach auf die Feststellungen im Strafverfahren abstellen sollten, insbesondere wenn ein beschuldigter Unfallverursacher freigesprochen oder das Strafverfahren gegen ihn eingestellt wurde; denn die Voraussetzungen für eine strafrechtliche Verurteilung sind höher als jene für eine zivilrechtliche Verpflichtung, Schadenersatz zu leisten (beispielsweise profitieren Beschuldigte im Strafrecht – im Gegensatz zum Zivilrecht – vom Grundsatz «in dubio pro reo»; auch sind im Strafrecht zugunsten des Beschuldigten subjektive, schuldentlastende Umstände zu berücksichtigen, wogegen sich das Verschulden derselben Person im Zivilrecht anhand eines objektiven Massstabs beurteilt). Art. 53 OR scheint denn auch eine Bindungswirkung des strafrechtlichen Entscheids ausdrücklich zu verneinen. Wie erwähnt neigen in der Praxis dennoch Zivilrichter oft dazu, Klagen gegen strafrechtlich freigesprochene Schädiger mit Verweis auf den strafrechtlichen Verfahrensausgang abzuweisen. Wenn die Waadtländer Gerichte und das Bundesgericht dies vorliegend nicht getan haben, stellt das eine begrüssenswerte Ausnahme dar.
Urteil 4A_230/2021 vom 7. März 2022
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