Änderung der Rechtsprechung bei Suchterkrankungen, BGer 9C_724/2018

by Kaspar Gehring

In einem von Rechtsanwalt Thomas Laube, KSPartner, geführten Fall hat das Bundesgericht seine langjährige Rechtsprechung zum Rentenanspruch in der Invalidenversicherung bei Suchterkrankungen geändert. Es ging um den Fall eines 1975 geborenen Fahrzeugschlossers, der unter ärztlicher Kontrolle Benzodiazepine einnahm und an einem ärztlich überwachten Ersatzdrogenprogramm teilnahm (Methadon-Programm). Die IV-Stelle des Kantons Zürich und das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich verneinten den Anspruch auf eine Invalidenrente mit dem Hinweis, dass das Suchtleiden al solche nicht zu einer Invalidität führen können. Die IV-Stelle und das Gericht beriefen sich auf die diesbezügliche langjährige Rechtsprechung des Bundesgerichtes.

Mit dem Urteil 9C_724/2018 vom 11. Juli 2019 hat das Bundesgericht diese Rechtsprechung nun geändert. Unter Hinweis vor allem auf neuste medizinische Entwicklungen (dazu Michael Liebrenz und weitere Autoren: «Das Suchtleiden bzw. die Abhängigkeitserkrankung – Möglichkeiten der Begutachtung nach BGE 141 V 281» in: SZS 2016 S. 12 ff.) hat das Bundesgericht entschieden, dass Suchterkrankungen gleich behandelt werden müssen wie alle anderen psychischen Erkrankungen. Voraussetzung für einen Rentenanspruch ist, dass die Suchterkrankung fachärztlich klar diagnostiziert ist. Alsdann muss nach dem strukturierten Beweisverfahren – das bei psychischen Erkrankungen grundsätzlich zur Anwendung kommt – ermittelt werden, ob sich das fachärztlich diagnostizierte Abhängigkeitssyndrom im Einzelfall auf die Arbeitsfähigkeit der versicherten Person auswirkt (nach BGE 143 V 418). Aus Gründen der Verhältnismässigkeit kann jedoch vom strukturierte Beweisverfahren abgesehen werden, wenn es nicht nötig oder geeignet ist. Das sind vor allem diejenigen Fälle, wenn für eine längerdauernde Arbeitsfähigkeit in den Akten keine Hinweise bestehen, dass eine Arbeitsunfähigkeit verneint werden müsste.

Mit dieser neuen bundesgerichtlichen Rechtsprechung wird eine lange bestehende invalidenversicherungsrechtliche Schlechterstellung von suchtkranken Versicherten behoben. Es ist auch zu hoffen, dass die Forderung nach der Abstinenz mit diesem Urteil nun relativiert wird.

Link zum Urteil des Bundesgerichts

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